Im Tunnel: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
ihr Sortiment anzupreisen, doch Tolik bekam davon überhaupt nichts mit. Er beobachtete, wie ihre filigranen Hände zärtlich über die Einbände der Bücher strichen, und bewunderte die dunkelblonden Locken, die unter ihrem roten Kopftuch hervorquollen.
»Sie hören mir ja gar nicht zu«, beschwerte sich die junge Frau.
»Nein – das heißt, doch«, stammelte Tolik. »Aber finden Sie nicht, dass Ihre Bücher schon etwas angestaubt sind?«, fügte er augenzwinkernd hinzu.
»Lenins Ideen sind immer aktuell!«, entrüstete sich di e Verkäuferin. »Sie begraben Wladimir Iljitsch zu früh.«
Tolik zuckte mit den Achseln. Es war eindeutig zu spät, Lenin zu Grabe zu tragen. Doch in der Bastion des Marxismus-Leninismus mit einem Mädel, das keinen Spaß verstand, einen ideologischen Streit anzuzetteln …? Keine gute Idee. Klein beigeben wollte Tolik trotzdem nicht, deshalb versuchte er es mit einem diplomatischen Schachzug.
»Dann müssen Sie mich wohl umerziehen.« Er lächelte breit und reichte ihr die Hand. »Ich heiße Anatoli.«
»Jelena.«
Die Berührung ihrer warmen Hand fühlte sich wie ein Stromstoß an.
Tolik hätte die Hand der jungen Frau am liebsten gar nicht mehr losgelassen. Sie machte ihrerseits keine Anstalten, sie zurückzuziehen. Der Umerziehungsprozess war bereits in vollem Gange, doch bedauerlicherweise wurde er gestört.
»He, wo haben sie dich denn ausgelassen? Mach dich gefälligst nicht an unsere Mädels ran!«
Der Störer war ein kräftig gebauter junger Mann mit kleinem Kopf, breiten Schultern und Augen, so leer wie ein Metrotunnel . A n seiner straff sitzenden paramilitärischen Jacke befand sich der gleiche Aufnäher, wie ihn Jelena trug. Die Jugendbrigaden der kommunistischen Partei, fiel Tolik ein. Wie hießen die gleich wieder? Metromol? Ach nein, Komsomol!
Der dreiste Komsomolze stieß Tolik zur Seite, packte di e Verkäuferin grob am Arm und versuchte, sie hinter dem Ladentisch hervorzuziehen. Ein Regal kippte um, Bücher fielen auf den Boden. Die junge Frau biss sich auf die Lippe und schwieg, doch ihre Miene sprach Bände. Tolik pfiff auf seine konspirative Mission und legte dem Rüpel die Hand auf die Schulter.
»Also bitte, Genosse. Hat dir die Partei keine Manieren beigebracht?«
Der Angesprochene reagierte völlig perplex. Er war offenbar nicht gewöhnt, dass man sich ihm widersetzte . A ls er Toliks Affront verinnerlicht hatte, füllten sich seine Augen mit Blut, und er ballte die Fäuste.
»Willst du Flachkopf mir vielleicht Vorschriften machen?«
Tolik fing den Schlag seines Kontrahenten geschickt ab und drehte ihm den Arm mit einem Spezialgriff von Ded auf den Rücken. Der Komsomolze heulte vor Schmerz auf und beugte sich so ruckartig nach vorn, dass er mit der Nase auf den Ladentisch knallte. Leider konnte Tolik seinen Sieg nicht auskosten.
»Sofort aufhören!«, bellte eine zornige Stimme, die Nikita gehörte.
Der Hüne riss sich los und wollte weiterkämpfen. Doch als er Nikita sah, schlug er stattdessen die Hacken zusammen. Er machte den Mund auf, um sich zu rechtfertigen, doch Nikita dachte nicht daran, ihn anzuhören.
»Hau ab, Trottel!«, zischte der NKWD ler.
Der Komsomolze trat zähneknirschend den Rückzug an und verschwand schon bald am dunklen Ende des Bahnsteigs. Nikita linste böse über seine dicken Backen und schüttelte den Kopf. Tolik fiel nichts Besseres ein, als schuldbewusst auf den Boden zu blicken. Nikita sagte kein Wort mehr und ging.
Jelena lächelte verlegen: »Dieser lästige Kerl geht mir schon die ganze Zeit auf die Nerven . Vielen Dank.«
»Stets zu Diensten«, sagte Tolik und erwiderte ihr Lächeln. »Auf dem Rückweg schaue ich wieder bei Ihnen rein und kaufe etwas. Wie wollen Sie mich sonst umerziehen, wenn ich keine Bücher zum Lernen habe? Einstweilen müssen Sie mich entschuldigen. Die Pflicht ruft.«
»Na, hoffentlich eine ehrenvolle Pflicht.« Diesmal lächelte Jelena anders: selbstsicherer. »Dann also bis bald.«
Seinen Trupp hatte der Kommandeur vollständig vergessen. Jetzt beeilte er sich, ihn einzuholen.
Seine Leute waren bereits in einem anderen Zelt verschwunden . Vor dem Eingang tigerte Nikita ungeduldig auf und ab . A ls er den Nachzügler erblickte, begann er zu nörgeln, doch Tolik war mit seinen Gedanken woanders.
Wieso hatte er dem Mädchen versprochen wiederzukommen? Woher nahm er die Sicherheit, dass es überhaupt ein Zurück geben würde?
In dem Zelt war ein großer Holztisch gedeckt. In den
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