Im Tunnel: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
Teatralnaja – Ochotny rjad – Ploschtschad Rewoljuzii erreichen. In seiner schicken Uniform machte Nikita dort eine wesentlich bessere Figur als in einem schmutzigen Zivilistensakko.
Der Marsch verlief ohne Zwischenfälle. Tolik dachte noch mal über das Federvieh vom alten Jäger-Markt nach.
Hatten Vögel eine Seele? Wenn man Grischa nicht für verrückt erklärte, dann ja . Vielleicht hatten sich die Seelen der getöteten Vögel tatsächlich unter die Erde geflüchtet und flatterten jetzt unter dem Tunnelgewölbe umher. Sie waren unsichtbar und machten Geräusche, die man nicht hören konnte. Besser gesagt: Nur die wenigsten Menschen konnten sie hören.
Als die Metro noch ihre ursprüngliche Funktion erfüllte, waren Züge unter der Ochotny-rjad-Straße hindurchgedonnert und hatten die Geräusche der Vögel übertönt. Doch in der Nacht hätte zum Beispiel ein Gleisarbeiter das Vogelgeschrei durchaus hören können …
Nach der Katastrophe war alles anders geworden. Die Leute hatten sich damit abfinden müssen, dass die gespenstischen Vögel, die über ihren Köpfen schwebten, mit ihrem Flügelschlag Spektakel machten. Früher hätte man noch sagen können: Überlassen wir den Himmel den Vögeln, und kehren wir zu irdischen Dingen zurück. Jetzt hatten die Metrobewohner von vornherein nur noch irdische Dinge. Unterirdische, besser gesagt.
Tolik gab Anweisung, die Gewehre unter den Jacken zu verbergen und sich auf die Ankunft an der Station vorzubereiten.
Die Teatralnaja empfing den Trupp früher als gedacht. In der Ferne tauchte ein gelbes Licht auf und wurde rasch größer.
»Keine Sorge«, sagte Nikita. »Wir haben Meter 300 überschritten. Unsere Leute haben hier nicht nur stationäre, sondern auch mobile Kontrollposten.«
»Wieso unsere Leute?«, wollte Tolik schon nachfragen, doch er verkniff es sich.
Kurz darauf hörte man das typische Klopfgeräusch einer handbetriebenen Draisine . A us der Dunkelheit schallte eine herrische Stimme. Der Kommandeur der Besatzung befahl stehen zu bleiben und schob den freundlichen Hinweis nach, dass andernfalls ohn e Vorwarnung geschossen werde.
Nikita nickte Tolik zu, hob die Hände und trat ins Scheinwerferlicht.
»Nicht schießen, eigener Mann!«
Die vier Wachen musterten Nikitas Uniform. Der nahm die Hände herunter und ging auf die Draisine zu.
Tolik legte die Hand auf den Griff seiner Pistole und nahm Blickkontakt mit Sergej auf, der sein Sturmgewehr ebenfalls schussbereit hielt – wenn auch immer noch unter der Jacke versteckt.
Der Moment der Wahrheit …
Wenn Nikita sie in eine Falle gelockt hatte, war ein Rückzugskampf ihre einzige Chance.
Doch es kam anders. Nachdem Nikita einige Worte mit den Wachen gewechselt hatte, kehrte er zu Tolik zurück. Die Draisine rollte in Richtung Station davon.
»Alles in Ordnung«, verkündete der Überläufer. »Sie lassen uns problemlos durch. Merkt euch, Männer: Ihr seid ab jetzt Kämpfer der Dserschinskaja . Verhaltet euch ungezwungen, aber sprecht mit niemandem, wenn es nicht sein muss. Um unangenehme Fragen zu vermeiden, müssen wir für kurze Zeit an der Station bleiben. Wir nehmen eine kleine Mahlzeit ein und so weiter …«
Was mit »und so weiter« gemeint war, hätte Tolik zu gern gewusst. Doch nicht die ehrenvolle Überstellung in die Gefangenschaft?
Er hätte sich verdammt noch mal vorher überlegen müssen, ob er Nikita vertraut oder nicht. Jetzt war es zu spät. Es gab keinen Weg zurück. Sowohl der Erfolg der Mission als auch das weitere Schicksal des Trupps lagen nun in den Händen des fetten Überläufers.
In den Tunnel drang ein vielstimmiges Raunen: Sie näherten sich der Station . A uf dem Gleisbett tauchte eine Brustwehr aus Sandsäcken auf, und eine gestreifte Schranke versperrte den Weg. Zwischen den Sandsäcken befanden sich Schießscharten, aus denen Gewehrläufe ragten.
Die Draisine machte sich auf den Rückweg zu Meter 300. Die Wachen musterten Toliks Männer – etwas grimmig, aber nicht ausgesprochen feindselig.
Die Schranke öffnete sich, und der Sabotagetrupp betrat feindliches Gebiet. Eigentlich hätte Tolik sich Sorgen machen müssen, dass ihm irgendein Missgeschick unterläuft oder ein falsches Wort herausrutscht. Doch dafür hatte er jetzt keinen Kopf. Er brannte vor Neugier . A uf dem Territorium der Roten Linie war er noch nie zuvor gewesen und konnte es kaum erwarten, sich hier umzusehen.
Etwas Ähnliches hatten sicher auch die Konquistadoren und Entdecker in der
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