Im Tunnel: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
Tellern dampften Schweinswürste und gedünstete Pilze. Dazu gab es Tee . A ußer dem quirligen Männchen, das sie bereits kannten, erwartete die Gäste ein gesetzter älterer Herr, den eine professorale Aura umgab.
Er stellte sich als Michail Andrejewitsch vor und freute sich so herzlich über die Gäste, als hätte er sie schon seit einer Ewigkeit erwartet. Jedem Einzelnen drückte er persönlich die Hand, und als die Reihe an Tolik war, wurde er sogar richtig gesprächig.
»Nikita hat erzählt, Sie kommen von der Jugo-Sapadnaja ? Na, wie geht es dort immer?«
»Ganz gut«, erwiderte Tolik überrascht und fragte sich: wieso von der Jugo-Sapadnaja ? Wie kommt er darauf?
Er schaute sich argwöhnisch um, konnte jedoch nichts Verdächtiges entdecken.
»Ich war schon mehrfach dort und kann nur das Beste sagen«, schwadronierte der Gastgeber und reichte Tolik die Hand zum Gruß. »Die Tunnel sind zwar nicht die sichersten, aber gut …«
Michail Andrejewitschs Hand war trocken und heiß, seine Nägel akkurat gestutzt. Mit seinem noblen grauen Anzug und den blank polierten, schwarzen Schuhen sah er aus wie ein richtiger Snob. Solche Gestalten bekam man im Untergrund eher selten zu Gesicht. Die Männer in der Metro schoren sich das Haar normalerweise extrem kurz – das war einfach praktischer, wenn man nur alle zwei Wochen duschen konnte. Eine Ausnahme bildeten heruntergekommene Obdachlose und Überflieger wie Nestor.
Auch Michail Andrejewitsch trug das Haar lang. Eine graue Strähne, die ihm immer wieder vor die Augen fiel, schob er mit einer aristokratischen, äußerst würdevollen Geste wieder zurück. Und er lächelte ununterbrochen. Dieses Lächeln hatte etwas Unnatürliches. Er formte es nur mit den Lippen, unterstrich es jedoch weder mit Mimik noch mit Gesten . A uch seine trüben blauen Augen blieben dabei eiskalt. Sie führten ein Eigenleben. Es entstand der Eindruck, als wohnte in der freundlichen Hülle des Michail Andrejewitsch eine andere Person, die das Geschehen durch die Schlitze in seinem Schädel verfolgte.
Tolik war der scheißfreundliche Typ sofort verdächtig. Was hatte er hier verloren? Warum sah er seine Männer an wie ein Schneider, der jedem von ihnen einen Anzug nähen sollte? Was war das für eine merkwürdige Fleischbeschau?
Und dann diese Bemerkung über die Jugo-Sapadnaja . Vielleicht gehörte die Herkunft von der abgelegenen Station zur Legende, die Nikita ihnen gestrickt hatte? Dann stellte sich jedoch die berechtigte Frage: Wann hatte Nikita die Zeit gefunden, Michail Andrejewitsch davon zu erzählen?
Tolik beobachtete seine Männer, die sich die Schweinswürste schmecken ließen und Pilztee tranken. Ihm selbst war der Appetit vergangen.
War das eine Falle? Hatte Nikita sie in einen Hinterhalt gelockt? Dann würde Tolik bald am eigenen Leib erfahren, wie es sich als Andersdenkender unter den Kommunisten lebt. Ob man sie gleich nachher beim Verlassen des Zeltes festnehmen würde? In Toliks Kopf schrillten sämtliche Alarmglocken.
Er musste sich einen Rückzugsplan überlegen. Der erste Schritt war schon mal klar: Nikita und Michail Andrejewitsch bekommen jeder eine Kugel in den Kopf. Panik bricht aus. Tolik und seine Männer nützen das Chaos, springen aufs Gleis und überrumpeln die Wachen am Kontrollposten. Wenn sie Glück haben, schaffen sie es, die Draisine zu kapern.
So hätten es Toliks Helden gemacht. Che Guevara zum Beispiel . A ber realistisch war das Szenario nicht. Bis zum freien Tunnel würden sie es nie alle schaffen . A m Bahnsteig wimmelte es von Militärs. Es wäre eine Frage von Sekunden, bis sie die Jagd auf die Saboteure organisieren. Die Zivilisten durfte man auch nicht unterschätzen – nicht umsonst mahnte sie der Genosse Moskwin stets zur Wachsamkeit.
Wie wohl der Engel mit dem roten Kopftuch in dieser Situation reagieren würde?
Mitten in Toliks sorgenvolle Gedanken platzte eine Erklärung von Michail Andrejewitsch.
»Meine Aufgabe ist es, allen, die länger nicht mehr an der Station waren, von unseren neuesten Errungenschaften zu berichten. Ich bin der Referent unseres Parteikomitees.«
Tolik wäre beinahe vom Stuhl gekippt. Ein Referent! Nichts weiter als ein besserer Touristenführer! Verdammte Axt! Tolik verfluchte sich. Noch eine halbe Minute, dann hätte er womöglich um sich geschossen. Und wann hatte Nikita die Story von der Jugo-Sapadnaja erzählt? Na klar: Während der Herr Kommandeur mit einer hübschen Komsomolzin geflirtet hatte!
Tolik
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