Im Tunnel: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
hätte sich am liebsten selbst in den Hintern getreten, zog es dann aber doch vor, den Ausführungen von Michail Andrejewitsch zu lauschen.
»In der Kürze der Zeit eures Aufenthalts an unserer Station kann ich nicht alles erwähnen, was wir hier unternommen haben, um in der jetzigen schwierigen politischen und wirtschaftlichen Situation die Führungsrolle der Kommunistischen Partei zu stärken und die Lebensbedingungen der kommunistischen Gemeinschaft der Metro zu verbessern. Der Prospekt Marxa ist natürlich nur ein kleiner Teil der Interstationale, doch wir wollen für ander e Vorbild sein . Vor wenigen Tagen, liebe Genossen, haben wir ein denkwürdiges Ereignis gefeiert. Im westlichen Vestibül der Station wurde ein Kindergarten eröffnet. Unsere Kinder sind die zarten Pflänzchen der Zukunft, und wir haben vor, diese Pflänzchen in einem neuen und vortrefflichen Gewächshaus zu hegen . A b jetzt werden die Sprösslinge unserer und der Nachbarstationen gemeinsam und unter der Obhut erfahrener Pädagogen erzogen. Die Rolle ihrer Eltern werden all jene einnehmen, die unter unserem ruhmvollen Banner stehen. Wir werden die nachwachsende Generation gemeinsam erziehen – im Geiste …«
Um grundlose Panik zu vermeiden, sollte man niemals vorschnelle Schlüsse ziehen. Je länger Michail Andrejewitsch sprach, umso mehr reifte in Tolik die Überzeugung, dass er es tatsächlich mit einem gewöhnlichen Parteireferenten zu tun hatte. Das etwas ausgefallene Äußere des Redners war noch lange kein Grund, ihm eine Kugel in den Kopf zu jagen. Im Gegenteil, die Attribute, die ihn noch vor wenigen Minuten verdächtig gemacht hatten, passten hervorragend zu seinem Beruf: der feine Anzug, die glänzenden Schuhe, die aristokratischen Gesten und sogar der prüfende Blick. Es gehörte eben zur beruflichen Routine eines Referenten, sich sein Publikum vor einem Auftritt genau anzuschaun.
Tolik atmete erleichtert auf. Es sah ganz danach aus, als könnte er sich entspannt anhören, was der Referent vom Leben an der geheimnisumwobenen Roten Linie zu berichten hatte.
Über vieles von dem, was Michail Andrejewitsch mit viel Pathos vortrug, konnte man allerdings nur schmunzeln. So äußerte er zum Beispiel die feste Überzeugung, dass sich binnen eines Jahres sämtliche Metrostationen freiwillig den Roten anschließen würden, nachdem sie sich mit eigenen Augen von den wirtschaftlichen Erfolgen der Kommunisten überzeugt hätten. Diese Ansicht hielt Tolik für naiv.
Die Idee von der Solidarität zwischen den Stationen sprach ihm dagegen aus dem Herzen. War es nicht genau das, was Kropotkin in seinen »Memoiren eines Revolutionärs« gemeint hatte? Was, wenn nicht gegenseitige Hilfe, führt zur Entwicklung eines ausgeprägten Gerechtigkeitssinns? Und damit auch zwangsläufig zu einem Bedürfnis nach Gleichheit und Gleichberechtigung?
Gewiss, bei den Roten gab es Führungspersönlichkeiten, die gleicher als die anderen waren und Privilegien genossen. In der jetzigen Entwicklungsphase ging es nicht anders. Doch wenn Michail Andrejewitsch recht hatte, waren sie eher Initiatoren als Anführer.
Als der Vortrag zu Ende war, schloss sich Tolik den Beifallsbekundungen für den Referenten an. Wenn er denn gelogen hatte, dann meisterhaft.
Beim Hinausgehen bereute es Tolik, dass er das Gastmahl nicht einmal angerührt hatte. Den leeren Schüsseln und zufriedenen Gesichtern seiner Leute nach zu schließen verstanden sich die Roten nicht nur aufs Reden.
Bevor er den anderen in den Tunnel folgte, war f Tolik noch einen letzten Blick auf den Bücherpavillon. Die jung e Verkäuferin stellte gerade Bücher ins Regal, schaute aber leider nicht in seine Richtung.
Ohne Ausweiskontrollen und sonstige Formalitäten passierte der Trupp den Kontrollposten, der vom Aufbau her eine exakte Kopie seines Pendants auf der anderen Stationsseite war. Die Dunkelheit im Tunnel, das Näherrücken des Ziels und vor allem das Auftauchen eines Fremden mit Taschenlampe sensibilisierten Toliks Sinne wieder für drohende Gefahren.
Nikita ging an der Spitze der Kolonne. Er wirkte mittlerweile sehr selbstbewusst und nicht im Geringsten besorgt über eine möglich e Vergeltung für seinen Verrat. Ja, er benahm sich, als stünde ihm ein Spaziergang bevor. Dabei riskierte er mindestens so viel wie die Saboteure selbst. Eher mehr!
Ach was, redete sich Tolik gut zu, der Mann läuft eben durch einen Tunnel, den er gut kennt. Ist doch normal, dass er sich sicher fühlt an einem
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