Im Visier des Todes
erklären, was er mit Nathalies Tochter will. Wo ist sie? Wir müssen doch irgendetwas tun.« Ja, sie hätte etwas getan, wenn sie sich bloß genauer an ihre Entführung erinnern könnte. Fest rieb sie sich über die Stirn, als könnten die verlorenen Bilder davon auferstehen. »Wo hast du mich damals gefunden, als ich entführt wurde?«
»Du warst an einer Autobahn. Der letzte Hinweis hat mich zu der Stelle geführt.«
»Was war da in der Nähe? In meinem Zustand kann ich unmöglich weit gelaufen sein.«
Er runzelte die Stirn. »Nichts. Wirklich nichts. Kein Dorf, kein Bauernhof oder Ähnliches. Zumindest weiß ich von keinem. Aber Nick – eventuell könnte er etwas herausfinden. Ich treffe mich mit ihm, sobald wir zurück sind.«
»Meinst du, die Polizei findet die Kleine?«
»Ich weiß es nicht.« Er atmete tief ein. »Jetzt bist du aber längst an der Reihe.«
»Pflicht.«
»Okay.«
Nervös nestelte sie an ihrem Ausschnitt. Auch wenn er sie bereits nackt gesehen und angefasst hatte – die Erinnerung an den Augenblick, als er sich in der Galerie zu ihr gebeugt und » Sofort ausziehen « geflüstert hatte, überkam sie wieder. Als würde seine Stimme auf ihrer Haut prickeln.
Er schien das Spiel ihrer Finger zu beobachten, jede Regung, die ihr Körper zeigte. Ein schwaches Lächeln zeichnete seine Augen mild. »Mach dein Haar auf.«
Sie tastete die Strähnen, die sich aus ihrer Frisur gelöst hatten, der Länge nach ab, langte nach dem Knoten, der halb lose in ihrem Nacken hing.
»Mach es bitte auf. Für mich.«
Mit einem leisen Klacken löste sich die erste Haarspange, dann die zweite. Sie legte die beiden Lilien neben sich auf das Bett, betrachtete das zarte Weiß-Rosa der Blüten, die Stabblätter, die sich ihr wie Fühler entgegenstreckten. Eine nach der anderen zog sie die Haarnadeln heraus, bis ihre schwarze Mähne Kay in die Hände regnete.
»Jetzt du«, wisperte sie. Ihr Blick glitt im Spiegel über den Streifen seiner nackten Haut zwischen der Knopfleiste herab bis zu seinem Hosenbund. Pflicht.
»Wahrheit.«
Sie biss sich auf die Unterlippe, als ihr ein enttäuschtes Seufzen entschlüpfen wollte. »Na gut. Also die Wahrheit. Was verbindet dich mit Nick Milla?«
Etwas in seinen Augen entrückte erneut in die Ferne. »Du stellst wirklich schwierige Fragen.«
»Du hättest › Pflicht ‹ wählen können«, flüsterte sie.
»Ja«, flüsterte er zurück. »Also Nick? Tja. Wir waren beide Pflegekinder in einer Familie. Ich habe wenig gesprochen, vermied es, wo ich nur konnte. Er dagegen erfand sich jedes Mal neu. Zu mir meinte er einst, ich könne ihn Luke nennen. Ein wenig sah er tatsächlich wie Luke Skywalker aus, nur mit braunen Augen. Aber der Punkt war, glaube ich, dass er sich insgeheim danach sehnte, irgendjemand würde zu ihm den magischen Satz › Ich bin dein Vater, Luke ‹ sagen.«
Leah senkte die Wimpern. »Ich weiß, wie sich das anfühlt. Darauf zu warten. Und es endlich zu hören.« Sie hatte geweint, ein kleines Mädchen, irgendwo allein, bis ihr Stiefvater sich neben sie gekniet und sie umarmt hatte. » Aber ich bin doch jetzt dein Papa « , hatte er gesagt. Es klang so einfach. Wie alles, was das Leben verändert. »Hat Nick es je gehört?«
»Ich glaube nicht.«
»Die gemeinsamen Erfahrungen in eurer Pflegefamilie haben euch also zusammengeschweißt?«
»Es verging kein einziger Tag, an dem wir uns nicht geprügelt haben – falls du das unter › gemeinsamen Erfahrungen ‹ verstehst. Nach knapp einem Jahr hat ihn das Jugendamt aus der Familie geholt, und ich habe ihn danach jahrelang nicht mehr gesehen.«
Behutsam kämmte er ihr mit den Fingern durch das Haar. Sie lehnte sich zurück, schloss die Augen und genoss jede einzelne Berührung. »Das verstehe ich nicht. In der Jugend habt ihr euch geschlagen. Du hast ihn danach nicht mehr gesehen. Dann taucht er bei dir auf, und du gibst ihm den Job als dein Assistent?«
»Weißt du, wie es ist, wenn du dich immer tiefer in dich selbst zurückziehst? Wenn du glaubst, die Welt wäre menschenleer und du allein mittendrin? Damals habe ich mich mit jedem geprügelt, der diese Leere stören wollte. Vielleicht war das meine Art, etwas, das mir fehlte, irgendwie zu füllen. Und … zu fühlen. Nick war immer da, wenn ich ihn brauchte. Das hätte er nicht tun müssen, und dann auch noch für mich. Ja, ich konnte mich immer auf ihn verlassen. Und als er weg war … fehlte mir ein bisschen mehr. Verstehst du?«
»Ich denke
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