Im Visier des Todes
konnte.« Sie goss sich noch einen Schluck ein. Als sie den Blick vom Glas hob, sah sie in seine Augen, die leicht schimmerten. Die Härte um seine Mundwinkel war verschwunden, seine Züge wirkten weich und verletzlich. Der Knoten in ihrer eigenen Brust, der sich bei jedem Wort immer mehr zugezogen hatte, löste sich etwas. Sie prostete ihm mit dem Glas zu. »Das war › Wahrheit ‹ . Jetzt bist du dran. Wahrheit oder Pflicht?«
»Leah, ich … kann es nicht.«
»Ich dachte gerade auch, ich könnte es nicht. Also: Wahrheit oder Pflicht?«
Für einige Sekunden, die für sie eine Ewigkeit währten, schloss er die Augen. »Pflicht. Tut mir leid.«
Sie nickte. »Knöpf dein Hemd auf.«
»Was?« Seine Hände verkrampften sich um das Glas. »Meinst du das jetzt ernst?«
»Glaub mir, ich bin schon betrunken genug, um ganz andere Sachen ernst zu meinen. Ist dir bewusst, dass ich dich noch nie nackt gesehen habe? Ich meine: vollkommen nackt.« Sie forschte in seinem Gesicht. Kurz dachte sie, er würde sie zum Teufel schicken. Dann löste er langsam eine Hand vom Glas und begann einen Knopf nach dem anderen aufzumachen. Bis sie durch den Spalt einen schmalen Streifen seiner Haut erspähte. Es hatte etwas Verbotenes, Sündiges an sich, als würde sie ihn durch ein Schlüsselloch beobachten.
Seine Augen fixierten sie herausfordernd. »Wahrheit oder Pflicht?«
»Wahrheit«, sagte sie, ohne ihren Blick von ihm abzuwenden. Sie würde ihm die Angst vor der Wahrheit nehmen und ihre eigene Furcht davor nicht zeigen.
Mit seinem Schweigen schien er sie zu prüfen.
»Wahrheit«, wiederholte sie verunsichert, und er nickte, ernst und gefasst wie vor einem Sprung zum Skydiving.
»Liebst du mich?«
Es war, als wäre sie zusammen mit ihm gesprungen. Und sie hatte doch noch ihren Blick abgewandt, zu dem gerahmten Foto, das neben dem Bett stand und mit der sonnigen Süße der Südfrüchte lockte.
»Ja.« Ihre Hand lag auf seiner Handfläche. Und du? Liebst du mich? Doch ihr fehlte der Mut, ihn das zu fragen.
»Wahrheit«, entschied er, ohne dass sie die Frage stellen musste.
Sie räusperte sich. Noch irritiert von dem, was er gerade gefragt und was sie gesagt hatte. »Was ist an dem Tag passiert, als du fast in deinem Auto umgekommen bist? Als die Zeitungen von einem Selbstmordversuch schrieben?« Sie spürte, wie seine Hand leicht bebte, und drückte seine Finger.
»Ich kann mich nicht mehr erinnern. Nachdem ich in eine Pflegefamilie gekommen war, hatte ich meinen Vater nicht mehr gesehen. Mit der Zeit fühlte es sich an, als hätte ich keine Vergangenheit. Oder als wäre es nicht die meine, sondern etwas, was meiner Fantasie entsprungen war und Jahr für Jahr immer mehr verblasste. Ich hatte mein Leben wieder. An dem Tag jedoch lauerte er mir auf. Es war bei einem Shooting in der Natur, er kam wie aus heiterem Himmel auf uns zugestürzt, hatte eines der Mädchen mit einem Stein am Kopf verletzt. Irgendwie ist es ihm gelungen, danach abzuhauen, aber ich war wie gelähmt, konnte nicht klar denken. Als würde ich mich wie früher vor ihm unter dem Bett verstecken, wohl wissend, dass er mich trotzdem herauszerren wird. Ja, verstecken konnte ich mich gut, nur mich nicht gegen ihn wehren. Am Abend habe ich mich betrunken, wollte nur noch weg, fortlaufen, wie damals. Also bin ich in die Garage gegangen. Was danach geschah, weiß ich nicht. Aufgewacht bin ich im Krankenhaus mit einer CO 2 -Vergiftung und einer Gehirnerschütterung.«
»Er hat dich bewusstlos geschlagen.«
»Oder ich habe mir den Kopf gestoßen, mich ins Auto gesetzt und den Motor eingeschaltet, ohne loszufahren. Ich bin wirklich sehr betrunken gewesen. Seitdem hat er mich immer wieder verfolgt, wenn er nicht gerade für irgendwelche Delikte einsaß. Aber dann ist es ruhig um ihn geworden, und ich habe geglaubt, er sei aus meinem Leben verschwunden.«
»Er hat also schon damals eines der Mädchen, mit denen du gearbeitet hast, verletzt.«
»Ein guter Freund hat mir einmal gesagt: Die meisten Lösungen liegen direkt auf der Hand. Ich habe mir weiß Gott was für eine Geschichte zusammengesponnen, aber dass mein Vater hinter alldem steckt, habe ich nicht vermutet. Geduld und Raffinesse – das passt nicht wirklich zu ihm. Aber ich habe mich geirrt. Anscheinend war er damit beschäftigt, einen ausgeklügelten Plan zu entwickeln, statt auf spontane Hassattacken zu setzen. Bis er heute in sein altes Muster zurückgefallen ist.«
»Ich kann mir einfach nicht
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