Im Visier des Todes
schon.«
»Jetzt du.« In einer Schlangenlinie fuhr seine Hand von ihrem Nacken bis zum Poansatz. Ein Schauer folgte seinen Fingern über ihren Rücken. »Wahrheit oder Pflicht?«
Sie unterdrückte ein Stöhnen. »Wahrheit.«
»Hast du deinen leiblichen Vater je kennengelernt?«
»Nein.«
Sie spürte, wie er auf mehr wartete. Ließ ihn warten. Denn mehr gab es nicht zu sagen. Außer vielleicht … »Mein Stiefpapa war meine Familie. Ich glaube, meine Mutter hat ihn nur geduldet, ihn geheiratet, um mir ein gutes Zuhause zu bieten, aber allein dafür bin ich ihr dankbar. Als sie mit Céline schwanger war, hat sich ihr Verhältnis zu ihm verschlechtert, sie konnte ihn nicht einmal mehr ansehen. Mit der Geburt ist alles noch schlimmer geworden – sie waren wie Fremde in einem Haus. Aber für uns – Céline und mich – war er der beste Vater, den man sich vorstellen konnte. Ich glaube, er ließ sich nicht scheiden, weil er Angst hatte, dass man uns ihm wegnehmen würde.«
Aber am Ende wurde er ihnen beiden genommen.
Kay schien es zu verstehen, das Ungesagte, das im Zimmer unter der hohen Decke schwebte. Als seine Hand die Haarsträhne an ihrer Schläfe zurückstreifen wollte, drückte Leah seine Handfläche gegen ihre Wange. »Wahrheit oder Pflicht?«
Nur leicht zuckten seine Finger an ihrer Wange. »Pflicht.«
»Bist du dir sicher?«
»Ja.«
»Dann möchte ich … dich massieren.«
Er spannte sich an. »Was?«
Sie sah ihm in die Augen und schmiegte seine Hand noch fester an ihr Gesicht. »Du hast mir deine Vergangenheit anvertraut. Kannst du mir auch deinen Körper anvertrauen?«
Sie fühlte, wie die Sehnen an seinem Handrücken hervortraten.
»Ja.«
Sie nickte, löste ihren Griff und bettete seine Hände in ihren Schoß. Mit den beiden Daumen streichelte sie über die Herzlinien, die sich wie lose gesponnene Fäden in seine Haut gruben, streichelte von der Handkante zum Zeigefinger und zurück. Hinter der Fensterfront hellte sich der Himmel auf. Die Dunkelheit wich. Leah verstärkte den Druck und umkreiste seine Daumen an den Lebenslinien entlang. Sie hatte irgendwo aufgeschnappt, dass an den Handballen die Angstlinien lagen, konnte diese aber in dem zarten Fältchennetz auf seiner Haut nicht erkennen – und strich alles weg, weit weg.
Sie machte seine Manschettenknöpfe auf und schob die Ärmel bis zum Ellenbogen hoch. Er wirkte gelöst in seinen Empfindungen. Sie neigte den Kopf und lächelte ihm unter den Strähnen, die ihr ins Gesicht fielen, zu. Die Haut an der Innenseite seiner Arme fühlte sich weich an wie das erste Licht draußen, das über die Wolken am Himmel von Paris streifte. Hauchzart fuhren ihre Fingerkuppen seine Sehnen entlang und auf der anderen Seite zurück zu den Handrücken. Sie hob seine Arme etwas an und küsste die Handgelenke, entlockte ihm ein leises Seufzen.
Kay hielt die Augen geschlossen, doch seine Züge verrieten seine Anspannung. Er wartete auf das, was kommen sollte, was er vermutlich noch niemandem erlaubt hatte. Wieder wanderten Leahs Hände seine Arme hoch und weiter über den Stoff zu den Schultern und dem Gesicht.
Seine Stirn, die Wangen, die Lippen – ihre Berührungen erfanden ihn neu. Fort mit den Sorgenfalten, mit der Anspannung der Muskeln am Kiefer, mit den harten Grübchen um die Mundwinkel. Sie strich alles fort, den Nacken entlang zu den Schultern, und bei jedem Mal erlaubte sie ihren Händen, sich ein wenig mehr unter den Stoff des Hemdes vorzuwagen. Und streifte es ihm schließlich von den Schultern.
Sein Körper versteifte sich. Die Muskeln traten hervor und bildeten ein dichtes Relief, das ihre Berührungen trotz seines » Ja « zurückzuweisen schien. Sie schaute zu ihm auf. Er sah sie an, doch sein Blick ging durch sie hindurch.
Sie betrachtete den Verband. Der weiße Mull saß seitlich über den Rippen und haftete mit Pflastern an der Haut. »Tut es sehr weh?«
Er schluckte hart. Seine Stimme klang rau, ein nervöses Lächeln flatterte über seine Lippen. »Ich glaube, ich bin so mit Schmerzmitteln vollgepumpt, dass dieser kleine Schnitt keine Chance hat, mir … unangenehm zu werden.«
Was dann? Langsam ließ sie ihren Blick höher wandern, über die Bauchdecke, die sich etwas schneller hob und senkte, zu der muskulösen, deutlich definierten Brust mit den wohlgeformten, dunklen Brustwarzen, die sich hart hervorhoben, zu … den Malen auf seiner Haut. Kleinen, kreisförmigen Brandnarben, als hätte jemand dort eine Zigarette nach der
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