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Im Visier des Todes

Im Visier des Todes

Titel: Im Visier des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: O Krouk
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berührte eines der Fotos in der inzwischen ruhenden Lawine. Es zeigte einen Jungen, der mit so einer Hingabe » Cheese « von sich gab, dass seine Mundwinkel mit noch ein wenig Mühe einen Kreis um seinen Kopf beschreiben würden. »Das ist mein Bruder Nael. Er war acht. Dies sind die ersten Bilder, die ich mit meiner allerersten Kamera gemacht habe, die mir mein Vater zum Geburtstag geschenkt hatte.«
    Dieses berauschende Gefühl, durch den Sucher des Fotoapparats zu blicken und die Welt in ihre Grenzen zu weisen. Schönheit dort zu entdecken, wo die meisten sie übersahen. In einem Harztropfen zwischen zwei Schuppen dunkler Rinde. In einer Daunenfeder, die sich an einem Grashalm verfangen hatte.
    Schon wieder die Rufe nach ihm.
    Es hieß, die Stimmen würde man als Erstes vergessen, doch diese Rufe verfolgten ihn über die Jahre hinweg. Kay, Herrgott noch mal, hör auf, jeden Dreck zu knipsen, mach lieber ein paar schöne Porträts von uns; wie oft soll ich es dir noch sagen: Geh nicht so nah an den Abgrund heran, willst du dir den Hals brechen? Nein. Was er wollte, war ein Stück seiner Welt am Lake Louise, nur für sich allein. Nur für ein paar Stunden diese Ruhe einatmen, die nach frischer Waldluft roch, frei von jeglichen Geräuschen. Nicht einmal Tierlaute wagten es, sie zu stören. Es war keine große Sache, bei Tagesanbruch aus der Blockhaus-Suite zu schleichen und dem Gletscher entgegenzulaufen, der über dem See in den Himmel ragte. Laufen und laufen durch die Natur, ohne jegliche Rufe. Aber die Sonne wanderte viel zu schnell über den Himmel. Er würde nach keiner Ausrede suchen, sondern den Ärger einfach ertragen – nicht zum ersten Mal.
    Dann hörte er es. Kaaaay? Ich möchte jetzt bitte nach Hause … bittebittebitte … Eine hohe, bebende Stimme, die Verzweiflung niederzuringen versuchte. Nael stand hinter ihm auf dem schmalen Pfad in seiner an den Knien aufgerissenen Hose und der schief zugeknöpften Jacke. Seine Haut war von Moskitos zerstochen. Daran, sich mit dem Mückenspray zu besprühen, hatte der Kleine natürlich nicht gedacht. Du hättest mir nicht folgen sollen! Du … Klette! Jetzt erwartete ihn ein noch viel größerer Ärger. Missmutig nahm er den Bruder an die Hand. Ist gut. Wir gehen jetzt zurück. Nur wusste er plötzlich nicht, wo das Zurück lag.
    »Wir sind bis in den Abend herumgeirrt, auf schmalen Pfaden, die einander alle glichen. Meine Wasserflasche war schnell leer. Wir hatten Hunger. Aber am schlimmsten waren die Moskitos. Und die Blackflies. Ja, die sind richtig fies. Die beißen einem glatt ein Stückchen Haut raus. Und ich habe immer wieder gesagt, dass wir bald da sein würden, obwohl Nael schon lange aufgehört hatte, danach zu fragen. Wusstest du, dass man sich in der Wildnis wie auf dem Mond fühlt – in dieser Einsamkeit und Stille?«
    Stille. Er hatte nur einen kurzen Aufschrei gehört. Gleich dem Ruf eines Vogels, der andere eindringlich warnt und in die Höhe hinaufflattert. Mit dem einzigen Unterschied, dass achtjährige Kinder nicht zum Himmel auffliegen, sondern in Schluchten stürzen.
    »Ich glaube, ich habe ihn leise wimmern hören. Dort, am Abgrund. Ich konnte nichts sehen. Ich konnte überhaupt nicht begreifen, dass er weg war. Wo er doch gerade eben hinter mir … « Ein anderes Foto in seiner Hand. Vollkommen schwarz und nur im Vordergrund schattenhafte Umrisse von Felsen. »Man musste ihn unbedingt finden; ich durfte nicht vergessen, wo er war, wo er auf Hilfe wartete.«
    Seine eigenen Rufe. In der Wildnis, wie auf dem Mond. Ich hole Hilfe! Ich hole Hilfe. Und immer wieder auf den Auslöser drücken, auch wenn der Rollfilm schon längst zu Ende war. Stille nach dem letzten Klick. Stille, in der keiner wimmerte.
    »Ich bin noch anderthalb Tage durch die Gegend gestapft, bis mich irgendwelche Typen gefunden haben. Jäger oder Ranger. Ich weiß es nicht mehr. Meine Eltern haben mich aus dem Krankenhaus abgeholt; davon, dass ich den Unfallort fotografiert hatte, wollten sie nichts hören. Sie wollten überhaupt nichts mehr von mir hören. Nach meinem Bruder wurde mehrere Wochen lang gesucht. Dass keine Leiche gefunden wurde, sei nichts Ungewöhnliches, haben sie uns erklärt, wenn vielleicht ein Grizzly im Spiel war.«
    Die Stille. Wie auf dem Mond.
    Nick regte sich als Erster, lehnte sich zurück und fuhr sich über das Gesicht, fast wie ein Schwimmer, der nach einer durchkämpften Strecke am Beckenrand auftaucht. »Mann. Ich weiß nicht, was ich sagen

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