Im Visier des Todes
soll. Wir hatten ja keine Ahnung.«
»Du bist der Ers… Nein. Der Zweite, dem ich es erzähle.« Er dachte an Leah, wie sie in seinem Arm auf dem Boden eingeschlafen war, und versuchte zu lächeln. Eine kostbare Erinnerung, die nie wieder Wirklichkeit werden würde. Plötzlich fiel ihm das Sprechen schwer. »Die Morde, die auf mich hindeuten. Diese Bilder, die plötzlich auftauchen, um mich an die Vergangenheit zu erinnern … «
»Und deine Frage, ob ich herausfinden kann, ob jemand, von dem du dachtest, er sei tot, vielleicht gar nicht tot ist.«
»Würde ich ihm heute direkt gegenüberstehen, würde ich ihn vielleicht gar nicht mehr erkennen. Ich habe ihn im Stich gelassen. Dort am Abgrund. Meinst du, das weiß ich nicht? Das sage ich mir jeden einzelnen Tag. Aber die Mädchen – Céline, Nathalie – , die haben mit der Sache doch nichts zu tun. Wenn er mich will, dann soll er mich holen. Nur nicht … « Er stockte. »Ich habe so eine schreckliche Angst um Leah. Und ich glaube, er weiß das.« Als sie entführt wurde – war das nicht ein Zeichen für ihn? Kay und Nael. Eine uralte Geschichte, die von Neuem erzählt wird. Kain und Abel.
Nick stand auf. Mehrere Minuten lang starrte er auf die Fotos, die auf dem Glastisch ausgebreitet lagen. Sein Gesicht wirkte undurchdringlicher als je zuvor. »Wer ist Leah?«
»Jemand, von dem ich mich fernhalten sollte.«
Wieder diese Stille.
»Nick? Du kannst mir in dieser Angelegenheit nicht helfen, stimmt’s?«
»Ich bin mir nicht sicher, ob … « Nick zögerte und unternahm einen zweiten Versuch. Seine Stimme klang belegt. »Hör zu, im Lauf der Zeit habe ich etwas Wichtiges gelernt. Die meisten Lösungen liegen direkt auf der Hand. Die Sache mit dem tot geglaubten Bruder, der vielleicht doch nicht tot ist und sich rächen will – du wirst mir sicherlich recht geben, dass so etwas ziemlich weit hergeholt klingt.«
»Welche Erklärung liegt denn deiner Meinung nach auf der Hand?«
Nick sah ihn an. Noch nie hatte Kay erlebt, dass der Blick dieser braunen Augen so rau sein konnte. »Wusstest du, dass dein Vater wieder in der Stadt ist?«
Er spürte Übelkeit in sich aufsteigen, ein Gefühl der Leere fraß sich in seine Magengrube. Der Obdachlose, den Leah einmal erwähnt hatte … Er hatte es verdrängen, nicht mehr daran denken wollen. »Bist du dir sicher?«
»Seit einiger Zeit habe ich ein Auge auf diesen Zweig deiner … eher unrühmlichen Verwandtschaft.«
»Schon seltsam, dass ausgerechnet er mir die Liebe zur Fotografie mitgegeben hat.«
»Hat er das?«
Kay zuckte leicht zusammen. Er hatte nicht bemerkt, es laut ausgesprochen zu haben. »Ja. Hat er. Früher haben wir stundenlang über Zeitschriften gesessen und uns über Licht und Fokus unterhalten. Du hättest sehen sollen, was für atemberaubende Aufnahmen er von meiner Mutter gemacht hat. Man hätte glauben können, sie wäre Greta Garbo und Marlene Dietrich in einem. Wenn man sie auf diesen Porträts ansah, empfand man selbst seine ehrfürchtige, tiefe Liebe zu ihr. Er hatte Talent.«
»Auch wenn ich jetzt weiß, dass er einen Sohn verloren hat – dass er den zweiten fast zugrunde gerichtet hat, werde ich ihm nicht vergessen. Und wenn er bei dir noch nicht aufgetaucht ist, dann lässt das meine Alarmglocken umso eindringlicher schrillen. Ich könnte mir vorstellen, dass er etwas im Schilde führt.«
»Aber doch keinen Mord!«
»Du hast selbst gesagt, er versteht was von Fotografie.«
»Die Raffinesse, die Geduld für solche Morde, überhaupt die Idee, alles so präzise zu arrangieren – nein, die hat er nicht. Er ist zerstörerisch in seiner Wut auf mich, aber jemanden tatsächlich umbringen? Nein.«
»Als er seine ehrfürchtige, tiefe Liebe zu deiner Mutter porträtiert hat, hättest du vermutlich geschworen, dass er keiner Fliege etwas antun könnte. Menschen ändern sich. Das passiert. Häufiger, als dass Totgeglaubte auferstehen.«
»Leah hat Bilder nach dem Überfall auf ihre Mutter und vom Tatort, als Nathalie gefunden wurde, gemacht. Ich habe sie gebeten, mir alles zu schicken. Meinst du, du könntest sie dir ansehen? Vielleicht entdeckst du darauf mehr als die Polizei.«
»Du setzt aber großes Vertrauen in meine Fähigkeiten.«
»Ich wüsste nicht, an wen ich mich sonst wenden könnte.«
»Schon gut. Leite sie an mich weiter. Ich melde mich, sobald ich etwas erfahre.«
Würde es bis dahin zu spät sein? Für ein anderes Mädchen, das für seine Schuld büßen müsste.
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