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Im Visier des Verlangens

Im Visier des Verlangens

Titel: Im Visier des Verlangens
Autoren: Courtney Milan
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gebrochen.
    Die schwarze Verzweiflung, die sich in ihm ausbreitete, war ihm nur zu vertraut. Allerdings gab es diesmal einen gutenGrund für die Krallen, die sich in seine Seele bohrten – diese Gewissheit, versagt zu haben. Er hatte Kate ein Versprechen gegeben, das er nicht halten konnte. Er hatte sich für fähig gehalten, alles zuwege zu bringen. Aber das war schiere Eitelkeit und Selbstüberschätzung gewesen. Die Wirklichkeit führte ihm seinen Hochmut nun gnadenlos vor Augen.
    Sein Versagen legte sich wie ein bleierner Umhang um ihn. Er war nicht gut genug. Er war nicht stark genug. Er war ein Idiot, Kate das Gefühl zu geben, sie könne sich auf ihn verlassen, und nun musste sie – und Louisa – den Preis dafür bezahlen, sich auf einen Idioten verlassen zu haben, der sich für einen Helden ausgab.
    Ned hätte in diesem Moment aufgeben müssen. Jeder vernünftige Mann hätte es getan. Er wollte aufgeben, wollte diese Mission für gescheitert erklären, um die Schmerzen nicht länger ertragen zu müssen, die vor ihm lagen.
    Andererseits hatte Ned schon Schlimmeres durchgestanden.
    Er kniff die Augen zusammen. Eine Latrine; Eintauchen in die Kloake menschlicher Fäkalien; ein Ruderboot im Meer. Irgendwie war ihm, als habe er einen Teil seines Selbst damals draußen auf dem Wasser zurückgelassen. Die sengende Sonne in diesem Boot hatte die meisten seiner Überzeugungen verbrannt, eigentlich alle, bis auf eine: Wenn du überleben willst, musst du weiter kämpfen, so düster die Zukunft auch aussieht. Und er hatte tatsächlich nicht aufgegeben.
    Kate brauchte keinen Helden, der Drachen tötete. In diesem Augenblick brauchte sie einen, der aufstehen und gehen konnte.
    Also packte Ned seine Ängste und seine Schmerzen, die ihm den Kopf volljammerten, und schleuderte sie von sich.
    „Wenn ich das schaffe“, sagte er mit lauter Stimme, „dann schaffe ich alles.“
    Es hätte schlimmer sein können. Verglichen mit den Stunden im Boot auf dem Meer, als sein Lebenswille ihm Trugbilder vorgegaukelt hatte, war ein lächerlicher Beinbruch wie einPicknick im Park mit Champagner und Erdbeertörtchen. Ein Säuglingsdrache, der statt Feuer zu speien nur warme Dämpfe rülpste.
    Ned wollte nicht stehen – wobei er seit geraumer Zeit Übung darin hatte, Dinge zu tun, die er nicht tun wollte. Sein Bein schmerzte. Wie gut, dass er auch Übung darin hatte, körperliche Schmerzen zu ertragen. Als er das Gewicht verlagerte, zog er zischend den Atem ein.
    Ohne die Stütze seines Reitstiefels mit dem festen Lederschaft hätte er den Knöchel wohl kaum belasten können. Aber so müsste es funktionieren. Bevor er jedoch das ganze Gewicht verlagerte, tastete er mit den Fingern über den Waldboden.
    „Verdammter Mist“, schimpfte er, als könnten laute Selbstgespräche seinen Schmerz lindern. „Beim Sturz habe ich Äste mitgerissen. Hier muss doch irgendwo einer herumliegen.“ Die Blätter in den Zweigen raschelten wispernd ihre Zustimmung. Nach einigem Suchen fand er einen passablen Ast, der zwar krumm gewachsen, aber immerhin dick und lang genug war, um sich darauf zu stützen.
    Er würde es bis Berkswift schaffen.
    Der erste Schritt war unerträglich. Der zweite Schritt trieb ihm vor Schmerz das Wasser in die Augen. Der dritte … Der Schmerz wurde nicht besser, sondern schlimmer, drang ihm bis in jede Faser, in jeden Knochen. Die Anstrengung, sich aufrecht zu halten, belastete Muskelpartien, die er kaum je benutzte.
    Wenn er das schaffte, schaffte er alles.
    Er müsste nie wieder zusammenzucken, wenn er an die vergeudeten Jahre seiner Jugend dachte. Er musste es schaffen, einen Schritt um den anderen. Etwa eine Meile lag hinter ihm, keuchend schaffte er die zweite, schleppte sich ächzend den gewundenen Pfad bergan, wischte sich salzigen Schweiß aus den brennenden Augen, Schritt um Schritt, weiter, immer weiter. Nicht aufgeben. Der Schmerz zermarterte ihm das Gehirn. Er glaubte, bei jedem mühseligen Schritt das Knirschender Knochensplitter zu hören.
    Irgendwie erreichte er die Hügelkuppe. Der Wald lag hinter ihm. In einiger Entfernung nahm er die dunklen Pfähle der Koppel wahr, auf der Champion untergebracht war. Mit letzter Kraft humpelte Ned durch das nasse Gras und umklammerte den Querbalken der Umzäunung, der ihm mehr Halt gab als der krumme Ast, auf den er sich gestützt hatte. Erleichtert schloss er die Augen und versuchte sich zu erinnern, ob die Koppel bis zu den Stallungen reichte. Ja.
    Sich an den Balken
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