Im Visier des Verlangens
Kate sah sich mit einer ausweglosen Situation konfrontiert. Jeder, dem sie die Wahrheit über ihn sagen würde, liefe zu Harcroft, um sich ihre Anschuldigungen bestätigen zu lassen. Niemand würde ihn für die Blutergüsse seiner Frau verantwortlich machen, wenn er ihnen eine plausible Erklärung auftischte. Im Übrigen hatte sie Louisa versprochen, absolutes Schweigen zu bewahren.
Und was Kates eigene Wünsche und Sehnsüchte betraf – den Zustand ihrer Ehe, ihr sinnliches Verlangen nach Ned –, das alles stand im krassen Widerspruch zu Louisas leidvollem Dasein.
Ned hielt Harcroft für einen wohlmeinenden Mann. Sie waren nicht nur alte Freunde, sie waren die besten Freunde. Als Ned ihn vor Jahren um Unterstützung bat, Lady Blakely ungeachtet ihrer nicht standesgemäßen Herkunft in die vornehme Gesellschaft einzuführen, hatte Harcrofts Fürsprache den Unterschied gemacht zwischen kühler Billigung und eisiger Ablehnung. Er hatte Situationen entschärft, die ohne ihn äußerst schwierig geworden wären. Alle fühlten sich dem Earl in irgendeiner Weise verpflichtet. Und keiner hatte auch nur andeutungsweise nach den Gründen gefragt, die Louisa bewogen haben mochten, ihn zu verlassen.
Kate wollte sich Ned entziehen, aber der Pfosten hinderte sie daran. „Nein, du hast recht. Ich habe kein Vertrauen zu dir. Hättest du Vertrauen zu einem Mann, der seine frisch angetraute Ehefrau verlässt und sie boshaften Spekulationen, bissigemSpott und widerwärtigen Wetten aussetzt?“
„Kate, ich …“
Sie legte ihre flachen Hände an seine Brust und stieß ihn von sich, in der Hoffnung, er würde ins Wanken geraten. Er aber trat zwei Schritte zurück, als sei ihr Stoß nichts weiter als eine höfliche Bitte gewesen, und fuhr sich mit der Hand durchs Haar, das ihm wieder in die Stirn gefallen war.
„Ich habe England verlassen“, fuhr er fort, „um mir selbst etwas zu beweisen, fürchte allerdings, dir muss ich noch eine Menge beweisen.“ Seine Stimme klang beinahe verwundert, als werde ihm erst jetzt bewusst, dass er seine Ehefrau und die damit verbundenen Verpflichtungen vernachlässigt hatte.
Keine beruhigende Feststellung. Kate verzichtete allerdings darauf, ihn danach zu fragen, in welcher Hinsicht er sich Harcroft verpflichtet fühlte.
6. KAPITEL
N eds Stimmung hellte sich im Verlauf des Tages nicht auf. Die Unterhaltung beim Abendessen zog sich zäh dahin. Niemand gab sich Mühe, in diesem Beisammensein eine heitere Abendgesellschaft zu sehen, bei dem die Herren sich nach dem Dessert zu einem Glas Portwein und einer Zigarre in den Rauchsalon begaben, um anschließend mit den Damen im grünen Kabinett Charade zu spielen. Die Regeln der Höflichkeit zu wahren, schien allen Beteiligten Charade genug.
Bald nach dem Abendessen zogen die Gäste sich zurück, und Ned ging in die Bibliothek, ein Ort beschaulicher Ruhe mit den zur Decke reichenden Bücherschränken aus dunklem Mahagoni, nur schwach beleuchtet von einer Petroleumlampe und dem goldenen Schein des Kaminfeuers.
Als er eintrat, musste er feststellen, dass er nicht allein war.
„Carhart.“
Ned hörte die tiefe melodische Stimme, ehe er die dunkle Männergestalt im Ledersessel vor dem Kamin wahrnahm. Neben Harcroft stand auf dem Beistelltisch ein Glas Port, von dem er vermutlich noch nicht getrunken hatte.
„Setz dich“, meinte Harcroft einladend, „und trink einen Schluck mit mir.“
Ihm blieb nichts anderes übrig, und Ned verzog die Mundwinkel.
Er hatte zwar kein Wort gesagt, aber Harcroft schien seine Stimmung dennoch eingefangen zu haben und drehte sich im Sessel um. Der Blick, den die Männer tauschten, wurzelte in alten gemeinsamen Erinnerungen. Eines Abends während ihrer Studienzeit in Oxford hatten beide die eine oder andere Flasche Wein zu viel getrunken. Das war noch zu Neds ausschweifenden Zeiten, bevor er wegen grenzenloser Faulheit der Universität verwiesen wurde. Kurzum, er hatte sich mit Harcroft sinnlos betrunken.
Nach der vierten Flasche Wein, wobei Harcroft darauf beharrte, es sei die sechste gewesen, hatten die beiden sich auf ein Thema eingelassen, was kein Mann mit Selbstachtung je anschneiden sollte: Sie hatten über Gefühle gesprochen.
Ausführlich.
Ned überlief noch heute ein Schauder, wenn er an jene Nacht dachte.
„Ein winziges Glas“, sagte er nun. „Mehr nicht.“
„Mehr nicht.“ Harcroft lächelte verständnisvoll, vermutlich gleichfalls in Erinnerung, trat an die Anrichte, goss einen Schluck aus
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