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Im Visier des Verlangens

Im Visier des Verlangens

Titel: Im Visier des Verlangens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Courtney Milan
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leise. „Liegt deine Grausamkeit so nah an der Oberfläche?“
    Das Gespräch näherte sich bedenklich dem trunkenen Gestammel jener Nacht.
    Was Grausamkeit betraf … Vor seiner Reise um die halbe Welt hatte der Begriff eine Reihe befremdlicher Bedeutungen: Kannibalismus oder Misshandlung nackter Frauen. Nun aber dachte er an Captain Adams und an die Nebelwand aus beißendem Pulverdampf über verwüstetem Land. Auch an dunkle Höhlen, in die Opiumraucher sich verkrochen, um einer Welt zu entrinnen, die für sie nicht zu ertragen war.
    „Meine Grausamkeit?“, fragte Ned. „Ich halte, ehrlich gestanden, nichts von Grausamkeit.“ Sie setzte Taten voraus, und die Düsterkeit, die ihn gelegentlich befiel, hatte nichts mit Taten zu tun. Er hatte auch nie den Wunsch gehabt, Menschenfleisch zu verspeisen oder einen Mord zu begehen. Wenn er von jenen dunklen Dämonen heimgesucht wurde, hatte er sich nichts sehnlicher gewünscht als absoluten Stillstand. Gelegentlich sehnte er sich immer noch danach. Der Unterschied zu früher bestand lediglich darin, dass er gelernt hatte, diesem Drang nicht nachzugeben.
    Ned blinzelte. Der Feuerschein brach sich im geschliffenen Kristall, blitzte auf wie polierter Stahl, grelle Sonnenreflexe im spiegelglatten Wasser.
    Harcroft starrte ins Feuer. „Es hat nichts mit Grausamkeit zu tun, unbotmäßigen Menschen eine Lektion zu erteilen und ihnen den Platz zuzuweisen, der ihnen gebührt. Gelegentlich ist Machtausübung nötig, um zu demonstrieren, dass Regeln und Gesetze einzuhalten sind. Selbst wenn du den Wunsch nach Gesetz und Ordnung als Grausamkeit bezeichnest, kennen wir beide doch die Wahrheit. Es ist der Lauf der Welt.“
    „Man kann es aber auch zu weit treiben“, warf Ned ein. „Wir bestehen auf unserem Recht, die Chinesen mit Opium zu vergiften. Wir töten Frauen und Kinder. Man muss keine Grausamkeiten begehen, um Stärke und Macht zu beweisen.“
    „Gelegentlich geschehen diese Dinge eben … aus Versehen.“ Harcroft hatte einen seltsam ernsten Ton angeschlagen, seine Miene hatte sich verhärtet.
    „Du nennst so etwas ein Versehen?“
    „Es gibt Situationen … Du weißt schon … Also ich kann verstehen, wie es so weit kommen kann. Die Bestie springt dir an die Kehle, und ehe du dich versiehst …“ Harcroft suchte Neds Blick. „Na ja, du weißt schon.“
    Ned wusste Bescheid – zumindest wusste er, wie es ihm ergangen war. Aber er hatte gelernt, seine Dämonen im Zaum zu halten und vorzugeben, er unterscheide sich nicht von anderen.Allerdings waren beide zu nüchtern, um die Wahrheit auszusprechen. Zudem hatte Ned im Grunde keine Ahnung, worauf Harcroft hinauswollte.
    „Ich weiß, dass man darauf vorbereitet sein muss“, erklärte Ned. „Man muss stärker und besser sein. Und wenn die Bestie wieder zum Sprung ansetzt und mit kalten Krallen nach dir greifen will, musst du schneller sein; dann kann sie dir nichts anhaben.“
    Harcroft blickte Ned lange in die Augen, bevor er sich abwandte. „Ja“, sagte er. „Das ist es. Genau das.“ Ein glühendes Holzscheit im Kamin fiel krachend in sich zusammen. Ein Funkenregen stob auf.
    „Nun haben wir genug über China geredet. Wie findest du England im Vergleich dazu?“
    Grau. Verregnet. Selbst das Vogelzwitschern klang anders. Er war heimgekehrt, aber alles Vertraute war ihm fremd geworden. Auch seine Frau. Vor allem seine Frau.
    „Ich finde England kalt“, sagte Ned schließlich. „Erbärmlich kalt.“
    Die Nacht war noch kälter geworden. Nachdem der Kammerdiener sich zurückgezogen hatte, löschte Ned das Kaminfeuer in seinem Schlafgemach. Er wollte es nicht warm haben. Die kühle Nachtluft schärfte seinen Verstand.
    Eine Kerze auf der Wäschekommode verbreitete einen fahlen Schein, der auf die Verbindungstür zum angrenzenden Zimmer seiner Gemahlin fiel.
    Kein anderer Ehemann hätte Bedenken gehabt, die Tür zu öffnen. Kate war bereit für ihn – wenn auch nicht mit großer Begeisterung. Und sie war überaus reizvoll. Es bestand also kein Grund, warum er sie nicht nehmen sollte. Es gab keinen Anlass für sein Zögern.
    Er näherte sich der Verbindungstür, erwartete ein verrostetes Quietschen der Scharniere – irgendeinen Widerstand, der darauf hindeutete, dass diese Tür seit Jahren nicht benutztworden war. Aber sie öffnete sich ungehindert und lautlos. Ein Diener ohne Sinn für Symbolik hatte die Angeln offenbar in seiner Abwesenheit regelmäßig geölt, als habe diese Ehe auch nach Jahren der

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