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Im Visier des Verlangens

Im Visier des Verlangens

Titel: Im Visier des Verlangens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Courtney Milan
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der Karaffe und reichte Ned das Glas.
    Die Freunde machten es sich vor dem Kamin bequem und blickten versonnen ins Feuer. Das war Ned lieber, als Harcroft anzusehen. Selbst in ihrer Trunkenheit hatten sie es damals vermieden, Themen zu berühren, die Ned am meisten zugesetzt hatten. Abgesehen von der Marchioness of Blakely war Harcroft allerdings der einzige Mensch, der zumindest ahnte, was Ned so sehr quälte.
    In jener Nacht hatte er nämlich ein verschleiertes rührseliges Geständnis abgelegt. Er hatte Harcroft seine Befürchtung gestanden, etwas sei mit ihm nicht in Ordnung, etwas, das ihn maßgeblich von anderen Männern unterschied. Harcroft, nicht minder betrunken, hatte ihm anvertraut, ihm ergehe es ähnlich. Natürlich hatten sie um den heißen Brei herumgeredet. Selbst in seinem Rausch war Ned nicht bereit gewesen, die verstörende und unerklärliche Schwermut, die ihn gelegentlich befiel, beim Namen zu nennen. Und Harcroft hatte seine seelischen Nöte ebenso wenig in deutliche Worte gefasst. Stattdessen hatten sie von einer Sache gesprochen, einer leidigen Angelegenheit . In jener Nacht war diese Sache Ned vorgekommen wie ein eiterndes Geschwür. Und sie hatten getrunken, um dieses Geschwür auszumerzen.
    Aber es hatte nichts geholfen.
    Ned hatte jenes Gespräch nur als verschwommenes betrunkenes Lallen in Erinnerung. Die gegenseitige Beichte hattedie Freunde einander jedoch nicht nähergebracht. Im Gegenteil: Ned hatte seither den Wunsch, diese Nacht aus seinem Gedächtnis zu streichen. Vorher war Harcroft ihm ein guter Freund gewesen; hinterher mied Ned seine Nähe, wünschte ihn ans andere Ende der Welt, als habe er eine ansteckende Krankheit.
    Das Feuer im Kamin knisterte, und Ned schüttelte den Kopf.
    „Wie war es denn?“ Harcroft drehte das Glas zwischen den Fingern. Wenn er daran genippt haben sollte, war nichts davon zu sehen. Nach jener durchzechten Nacht gefühlsduseliger Geständnisse hatte auch Harcroft kaum je Alkohol angerührt. Selbst bei seiner Hochzeit hatte er nur an einem Glas Champagner genippt.
    „Was war wie?“, fragte Ned argwöhnisch.
    „China.“
    Ein ungefährliches Terrain, wäre Neds Reise nicht so unentwirrbar mit dem Gesprächsthema jener Nacht verbunden gewesen. Er stellte sein Glas ab und schloss die Augen. Bilder tauchten auf – grüne steile Berge, die aus dem glasklaren Blau des Ozeans anstiegen, üppige Vegetation, die alles Land zu verschlingen drohte. Feuchte erdrückende Hitze und der überwältigende Gestank nach menschlichen Exkrementen. Grelle Lichtreflexe auf poliertem Stahl, darüber die sengende Sonne hoch am Himmel. Und nachdem er Hongkong den Rücken gekehrt hatte, das Delta des Pearl River hinter grauen beißenden Rauchschwaden des Kanonenbeschusses.
    Ned hatte keine Lust, darüber zu sprechen.
    Hitze , auf dieses Stichwort ließ er sich ein. „Es war so heiß, dass man eimerweise schwitzte, und so feucht, dass der Schweiß in den Eimern nicht verdunstete. Ich musste ständig mein Hemd auswringen, als hätte ich es aus dem Wasser gezogen.“
    „Pah. Klingt grässlich unzivilisiert.“ Harcroft zog sich einen Hocker heran und legte die Füße darauf. Das Feuer knistertewieder, und der Luftzug wehte Rauchgeruch in Neds Nase. Ein entferntes Echo der schwefeligen Rauchwolken des Schießpulvers, an das er sich ebenfalls erinnerte.
    „Wenn du Zivilisation als Walzer und Salonorchester in vergoldeten Ballsälen definierst, ja, dann war es unzivilisiert.“ Ned hielt die Augen immer noch geschlossen und glaubte, das leise Schaukeln der Wellen unter seinen Füßen zu spüren. Ein dünnes Lächeln flog über seine Lippen.
    „Was sollte Zivilisation denn sonst sein?“ Harcrofts Stimme klang amüsiert.
    Ned sah immer noch den Qualm über dem Delta – kein heller Schleier aus Wasserdunst, sondern Rauch, schwefelhaltig und ätzend. Dahinter die von den Kanonen zerfetzten Trümmer menschlicher Behausungen.
    „Ich finde, wir tragen unsere Zivilisation in uns“, antwortete Ned gedehnt. „Und auch unsere Grausamkeit. Es ist nur ein kleiner Schritt von einem zum anderen. Das gilt für Briten ebenso wie für Chinesen.“
    „Blasphemie“, widersprach Harcroft hitzig. „Zumindest Hochverrat.“
    „Aber die Wahrheit.“ Ned schlug die Augen auf und blickte zu Harcroft hinüber.
    Er hielt das Glas in beiden Händen und blickte sinnend in die goldene Flüssigkeit, als könne er die Zeichen der Zivilisation darin erkennen. Als er endlich sprach, klang seine Stimme

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