Im Visier des Verlangens
die Beklommenheit der letzten Nacht absurd.
Entschieden schüttelte Ned den Kopf. Seine überschäumende Fantasie drohte ihm wieder einmal einen Streich zu spielen, wenn er es zuließ. Es gab mehrere Punkte zu bedenken. Erstens: Banditen versteckten sich nicht in einer zugigen Schäferhütte, wo sie keinen Zugang zu Bier hatten. Und zu Weibern. Zweitens: Die Hütte befand sich auf seinem eigenen Grund und Boden. Und drittens: Er selbst war zwar kein Experte auf diesem Gebiet, aber seiner Meinung nach verirrten sich geistig verwirrte Frauen Haare raufend im Moor, statt sich in verlassenen Hütten an einem winzigen Feuer zu wärmen.
Wahrscheinlich war nur ein Schäfer gekommen, um die Weidezäune kurz vor dem Winter noch einmal zu inspizieren und Aufräumarbeiten in der Hütte zu verrichten oder das Dach auszubessern. Es gab zweifellos eine plausible Erklärung. Irgendetwas, aber ganz sicher nicht die Möglichkeit, einer Bande Verbrecher zu begegnen, die Harcrofts Gemahlin entführt und sich mit ihr auf den Ländereien von Harcrofts Freund versteckt hatten.
Laut klopfte er gegen die Tür und horchte.
Nichts. Keine Schritte. Kein hastig geflüsterter Befehl, zu den Waffen zu greifen.
Selbst der Wind schien den Atem anzuhalten.
Prüfend blickte er nach oben, ob er sich das Zeichen menschlicher Anwesenheit nur eingebildet hatte. Rauchkringel stiegen hoch, die Hitze über dem Kamin waberte in Luftschlieren. Es musste jemand in der Hütte sein. Kein Hirte würde Feuer unbeaufsichtigt zurücklassen, schon gar nicht in der herbstlichen Trockenzeit.
„Draven?“, rief er.
Keine Antwort.
„Stevens? Darrow?“ Er zermarterte sich das Hirn nach weiteren Namen von Schäfern auf seinem Land. „Dobbin?“, rief er schließlich aus schierer Verzweiflung. Dobbin war allerdings der Name eines Hirtenhundes. Immer noch keine Antwort,weder die eines Hundes noch eines Menschen. Wer immer sich in der Hütte aufgehalten hatte, war zweifellos für eine Weile fortgegangen. Ned nahm sich vor, den Mann mit scharfen Worten zurechtzuweisen, ein Feuer in dieser Trockenperiode unbeaufsichtigt zurückzulassen.
Allerdings gab es keinen Grund, sich nicht einen kleinen Scherz zu erlauben, ehe der Mann zurückkehrte.
Ned legte die Hand an den Türgriff.
„Nun denn, Lady Harcroft“, rief er mit tiefer Stimme und feixte, kam sich selbst jedoch ein wenig lächerlich vor bei diesem kindischen Getue. „Das Spiel ist aus. Ich habe euch Banditen gefunden und werde euch vor Gericht bringen! Ha!“
Wäre dies eine Räubergeschichte gewesen und Ned ein Konstabler der Bow Street Runners – oder gar ein tapferer Ritter –, hätte er dramatisch die Tür eingetreten. Wobei allerdings zu bedenken war, dass er sich eine peinliche Ausrede zurechtlegen müsste, wenn er seinen Gutsverwalter später anwies, den Schaden beheben zu lassen. Also begnügte Ned sich damit, die Tür aufzureißen.
Statt wie erwartet die winzige Stube mit einem wackligen Tisch und einer Feuerstelle vorzufinden, lagen Säcke mit Kartoffeln oder Rüben auf dem Lehmboden sowie ein kleinerer Sack Mehl. Der einzige Beweis, dass er nicht träumte, war eine quer durch die Kammer gespannte Leine, an der Wäsche zum Trocknen aufgehängt war. Ein derart prosaisches Bild hätten seine Hirngespinste ihm gewiss nicht vorgegaukelt.
Und als er den verdutzten Blick schweifen ließ, entdeckte er zu seiner Verblüffung tatsächlich Lady Harcroft, die sich im entferntesten Winkel angstvoll gegen die grob verputzte Mauer drückte. Ihr rotes Haar war geflochten und zu einem Kranz hochgesteckt; sie trug ein schlichtes dunkelbraunes Kleid. In seiner Überraschung, sie tatsächlich gefunden zu haben, dauerte es eine Weile, bis er begriff, was sie in den Händen hielt.
Eine silberbeschlagene Pistole. Die Waffe aus seinen Albträumen. Und sie zielte mit beängstigend ruhigen Händen auf Neds Magengegend.
Seine Heiterkeit war verflogen. Die Beklommenheit vom Abend zuvor kehrte zurück, allerdings als helles Entsetzen.
„Verfluchter Mist.“ Die Worte entfuhren ihm ohne sein Zutun. Er ließ den Türgriff los.
Lady Harcroft stand reglos mit aufeinander gepressten Lippen da.
„Bei allen guten Geistern … Lady Harcroft, Sie sind die Verbrecherbande?“
Sie schien gar nicht zu hören, was er sagte, was ihm nur recht sein konnte, denn seine Welt hatte sich auf das eiskalte Hämmern seines Pulses reduziert. Sie straffte die Schultern und hob den Lauf, der nun direkt auf Neds Brust zielte.
„Es ist
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