Im Visier des Verlangens
Ihnen doch klar, dass ich nur einen Scherz machen wollte mit meiner Drohung, Sie vor Gericht zu bringen.“ Das alles war längst nicht mehr komisch, nicht einmal peinlich. Es war tödlich beängstigend.
„Mr Carhart.“ Lady Harcrofts Stimme zitterte, während ihre Hände ruhig blieben. „Es tut mir leid. Wirklich.“
„Warten Sie. Nein.“
Aber sie hatte bereits die Augen verengt, und ehe Ned sich seitlich aus der Schusslinie werfen konnte, drückte sie ab.
* Jeremy Bentham (1748-1832), englischer Philosoph und Sozialreformer, forderte u. a. allgemeine Wahlen und das Frauenstimmrecht. (Anm. d. Übers.)
9. KAPITEL
D as metallische Klicken hallte in Neds Kopf wider – allerdings ungleich harmloser als die Explosion von Schwarzpulver, die er befürchtet hatte.
Louisa starrte ihn mit angstgeweiteten Augen über den Pistolenlauf hinweg an. „Verdammt, Kate.“ Ihre Stimme war ein heiseres Krächzen. „Keinen Schritt näher, Mr Carhart. Oder ich …“ Kläglich verzog sie das Gesicht. „Ich habe ein Messer.“ Sie hob die Stimme, als stelle sie eine Frage.
Ned war über seine wundersame Rettung nicht so verwirrt, um die befremdliche Tatsache zu überhören, dass Lady Harcroft seine Ehefrau verflucht hatte.
„Es ist nicht so, wie es den Anschein hat“, versuchte er zu erklären.
Ihr unsteter Blick flog durch die Kammer, zweifellos auf der Suche nach einem Fleischermesser, mit dem sie ihn angreifen könnte.
„Ich bin hier, um Ihnen zu helfen“, fuhr Ned fort, trat näher und schob die Wäsche auf der Leine beiseite. Tropfende Windeln, wie er feststellte. Offenbar im Morgengrauen im Bach gewaschen, der eine halbe Meile entfernt lag.
„Hat Kate Sie geschickt? Sie hat mir versprochen, Ihnen nichts zu sagen.“
„Kate …“ Ned beäugte die Feuerwaffe, die Lady Harcroft mit beiden Händen umklammerte. Bei genauerem Augenschein erkannte er seine Pistole, die er aus China mitgebracht und in eine Schublade geworfen hatte, in der Hoffnung, sie nie wieder sehen zu müssen.
„Kate“, fuhr Ned beschwichtigend fort, „will nur Ihr Bestes, wie Sie wissen, und sie hat meine volle Unterstützung.“
Lady Harcroft begegnete seinem Blick. „Richten Sie Ihrer Frau aus, das nächste Mal soll sie die Pistole laden.“
Ned hatte Louisa früher nur in Begleitung ihres Gemahls gesehen. Diese zwar zierliche, aber würdevolle Frau wies indeskaum Ähnlichkeiten mit jenem bleichen schattenhaften Wesen an Harcrofts Seite auf.
Während Ned sich ihr näherte, krümmten sich ihre Finger so fest um die auf ihn gerichtete Waffe, dass die Knöchel weiß schimmerten.
„Sie wollen mir das Ding doch nicht über den Schädel schlagen, oder?“ Er lächelte, um ihr zu zeigen, dass er scherzte.
Ihr Zögern machte ihm deutlich, dass sie diesen Gedanken tatsächlich in Erwägung zog.
Ned schüttelte den Kopf und hob die Hand, um ihr die Waffe abzunehmen, bevor es zu einem peinlichen Handgemenge käme. Lady Harcroft aber zuckte verängstigt zurück und hob schützend den angewinkelten Arm vors Gesicht. Ned erstarrte mitten in der Bewegung und blickte in ihre angstvoll aufgerissenen Augen.
Sie musste wohl das Entsetzen in seinem Blick bemerkt haben.
In den ersten Schrecksekunden nach ihrem fehlgeschlagenen Versuch, ihn zu erschießen, hatte er sich keinen Reim auf ihre Anwesenheit in der Schäferhütte machen können. Nun wurde ihm allerdings vieles klar. Lady Harcroft war nicht irrsinnig. Sie war auch nicht entführt worden. Aber sie hatte Todesangst. Und als er die Hand nach ihr ausstrecken wollte, hatte sie reflexartig den Arm hochgerissen, um ihr Gesicht zu schützen.
Kate war in die Sache verwickelt. Sie hatte für Mrs Alcots Trennung von ihrem gewalttätigen Ehemann gesorgt. Lady Harcroft hatte hier Zuflucht gefunden und wich entsetzt vor ihm zurück, als erwarte sie seinen Schlag.
Großer Gott.
Nun ergab alles einen grauenvollen Sinn – Harcrofts Hasstiraden am gestrigen Abend, Kates seltsam fahriges Gebaren bei ihrer Begegnung am Nachmittag.
Lady Harcrofts angsterfüllte Reaktion erklärte mehr als tausend Blutergüsse. Sie war geschlagen worden, und zwar sohäufig, dass sie selbst eine freundliche Geste als Bedrohung nahm. Ned trat ein paar Schritte zurück, um ihr die Furcht zu nehmen.
„Oh Gott“, stieß Louisa mit erstickter Stimme hervor und ließ endlich die Pistole sinken. „Ich bin so dumm.“ Und dann brach sie in Tränen aus.
Ned wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Er wagte nicht, sich
Weitere Kostenlose Bücher