Im Visier des Verlangens
gewiss mehr. Ich nehme mir diese beiden Stellen vor.“
Das Gefühl, dass irgendetwas seiner Aufmerksamkeit entging, verstärkte sich.
Harcroft nickte. „Abgemacht. Ich will morgen zeitig los und brauche meinen Schlaf.“ Er stand auf und streckte sich.
Versonnen hielt Ned den Blick auf die Karte gerichtet. „Eins verstehe ich nicht, Harcroft. Jenny und Gareth haben den ganzen Tag damit verbracht, Erkundigungen über zwielichtige Gestalten einzuziehen, die deine Frau entführt haben könnten. Du aber hast die Leute heute Nachmittag nur danach gefragt, ob sie eine Frau mit einem Säugling gesehen haben. Hast du mal in Erwägung gezogen, Louisa könnte dich aus freien Stücken verlassen haben?“
Harcroft erstarrte, die Arme immer noch hochgestreckt. „Man kann keine Möglichkeit außer Acht lassen.“
„Aber was könnte sie zu diesem Schritt bewogen haben?“
„Was weiß denn ich, was einer Frau in den Sinn kommt?“ Er zuckte mit den Schultern, als seien damit alle weiblichen Launen abgetan. „Mal ehrlich! Ich begreife nicht, wieso Frauen das Wahlrecht erhalten oder Anspruch auf eigenen Besitz haben sollten. Dürften sie wählen, würden sie den Burschen mit dem schönsten Schnurrbart nehmen oder einen Dandy, der ihnen verspricht, eine neue Moderichtung zu kreieren.“
„Ein ziemlich hartes Urteil.“
„Wohl kaum. Wenn eine Frau sich anmaßt, eine wichtigeEntscheidung treffen zu können, ist das bereits der Beweis ihrer Unfähigkeit. Das jedenfalls ist meine Erfahrung. Frauen sind zu geistlos, um zu erkennen, wozu sie nicht fähig sind.“
Ned schwieg nachdenklich. Unter den gegebenen Umständen war es verständlich, dass Harcroft in seiner Besorgnis und Ratlosigkeit bittere Gefühle gegen alle Frauen hegte. Er spürte den finsteren Blick des Freundes auf sich.
„Du bist doch hoffentlich nicht der Meinung, den Frauen sollten mehr Rechte eingeräumt werden, wie?“, fragte der Earl höhnisch. „Oder findest du etwa, Weiber sollten ein Mitspracherecht in Männerbereiche haben?“
Neds Vater war in jungen Jahren bei einem Reitunfall ums Leben gekommen. Seine Mutter hatte ihn buchstäblich allein erzogen. Sie hatte die richtigen Lehrer für ihn ausgesucht, hatte dafür gesorgt, dass seine Cousins ihm Reiten, Jagen und Boxen beibrachten und sein Großvater ihn in den Grundbegriffen der Gutsverwaltung unterwies. In seiner späteren Jugend hatte er beobachtet, wie Jenny, die jetzige Marchioness, schwierige Situationen meisterte, die manchen Mann in die Knie gezwungen hätten. Ned kannte die vorherrschende Meinung, wonach weibliche Wesen vor den Mühen des Lebens verschont werden sollten. Die Frauen, die ihm am nächsten standen, hatten allerdings kaum männlichen Schutz genossen und meisterten ihr Leben dennoch mit Bravour.
Vielleicht fiel es ihm deshalb schwer, sich wie viele seiner Zeitgenossen darüber zu ereifern, dass Frauen sich anmaßten, Anspruch auf traditionell männliche Vorrechte zu erheben. In seinem Leben genossen Frauen seit jeher diese Vorrechte.
„Wenn du dir Sorgen machst, ob Lady Harcroft allein im Leben zurechtkommt“, versuchte er einzulenken, „so habe ich die Erfahrung gemacht, dass Frauen weit größere Fähigkeiten besitzen, als wir ihnen zugestehen wollen. Ich bin sicher, sie wird dich in dieser Hinsicht noch in Erstaunen versetzen.“
Harcroft schien Neds wohlgemeinten Einwand gar nicht zu hören. Er schlug sich mit der Faust in die Handfläche. „Ichplädiere dafür“, erklärte er, „Frauen per Gesetz für unzurechnungsfähig zu erklären. Man muss ihnen das Recht auf eigenen Besitz verweigern, den sie lediglich verschleudern; ebenso das Recht, vor Gericht gegen Männer auszusagen, die sie beschützen. Und drittens darf ihnen nicht das Recht auf Scheidung zugestanden werden.“
„Verheiratete Frauen haben doch ohnehin keinen Anspruch auf eigenen Besitz“, entgegnete Ned. „Sie dürfen vor Gericht nicht gegen den eigenen Ehemann aussagen und können eine Scheidung nur in Fällen extremer ehelicher Grausamkeit erwirken.“
Harcroft räusperte sich. „Weißt du eigentlich, wovon du redest? Oder bist du etwa ein heimlicher Anhänger dieses Spinners Bentham * ? Wie kommst du sonst dazu, diese Litanei absurder weiblicher Forderungen herunterzubeten?“
Genau diese Forderungen waren in allen Zeitungen nachzulesen und gaben Anlass zu hitzigen politischen Debatten. Müde schüttelte Ned den Kopf.
„Ja, ich bestehe darauf“, erklärte Harcroft grimmig. „Wenn es
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