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Im Visier des Verlangens

Im Visier des Verlangens

Titel: Im Visier des Verlangens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Courtney Milan
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ihr zu nähern, um sie zu trösten, wenn schon eine harmlose Handbewegung sie zu Tode erschreckt hatte. Schweigend zog er ein Taschentuch aus seinem Reitjackett und schob es ihr auf der Tischplatte zu. Sie sank auf den Stuhl, weinte damenhaft still und betupfte sich die Augen mit dem Tuch. Ned wartete in ratlosem Schweigen.
    „Wäre ich kein solch elender Duckmäuser, wäre ich nicht hier. Hätte ich es nur nicht so weit kommen lassen! Wenn ich den Mut gehabt hätte, um … um …“ Ein Schluchzen entrang sich ihr.
    „Um was zu tun?“, fragte Ned leise.
    „Um dieser ganzen Sache Einhalt zu gebieten, bevor es überhaupt anfing.“ Sie putzte sich die Nase. „Wäre ich kein solcher Schwächling, wäre das alles nie geschehen. Ich war so töricht, so hilflos …“
    Abwehrend hob Ned die Hand, um ihren Schwall an Selbstbezichtigungen zu unterbrechen. „Wenn Sie von dieser Sache reden, meinen Sie Harcrofts Verhalten Ihnen gegenüber, habe ich recht?“
    Sie nickte schniefend. „Das trifft es wohl.“
    „Und mit es meinen Sie …“ Die Welt schien sich langsamer zu drehen, und Ned schluckte gegen die Trockenheit in seiner Kehle an. „… meinen Sie die Tatsache, dass er Sie geschlagen hat.“
    Sie nickte wieder.
    „Wie lange?“
    „Nicht länger als fünfzehn Minuten jedes Mal“, antwortete sie ernsthaft. „Ich weiß. Es gibt schlimmere Fälle.“
    Ned begegnete ihrem Blick. „Das habe ich nicht damit gemeint. Hat er Sie damals schon geschlagen, als wir uns kennenlernten?“
    „Oh ja. Es begann nach dem ersten Jahr unserer Ehe. All das wäre nicht geschehen, wenn ich ihm eine bessere Frau gewesen wäre. Damals gab es einen Gentleman, ein guter Freund, mehr nicht, aber …“
    Die Stimme versagte ihr, und Ned schüttelte wieder den Kopf. Sie war damals sechzehn, um Himmels willen, ein halbes Kind. Und Harcroft hatte sie grausam gezüchtigt.
    Ned verkrampfte sich innerlich bei ihrem Geständnis, denn er verstand ihre Gedankengänge nur zu gut.
    Wie oft hatte er sich ähnliche Selbstvorwürfe gemacht? Was wäre, wenn er anders gehandelt hätte? Wenn er besser gewesen wäre? Wenn ihn seine eigene Schwäche nicht verraten hätte? Diese Selbstzweifel hätten ihn umgebracht, wenn er sich nicht dagegen zur Wehr gesetzt hätte. Es hatte Jahre gedauert, bis er gelernt hatte, gegen seine Ängste anzukämpfen. Er konnte sehr gut nachvollziehen, welche Qualen Lady Harcroft ausgestanden hatte.
    Ihr Ehemann war Neds Freund gewesen – seltsam, wie schnell dieser Gedanke in die Vergangenheitsform wechselte. Aber Harcroft würde niemals begreifen, welch tiefes Verständnis Ned für seine Frau empfand.
    Er kannte das Gefühl der Ohnmacht, der Willkür anderer ausgeliefert zu sein. Und er würde nicht dulden, dass ein anderer Mensch hilflos der Brutalität eines herrischen Tyrannen ausgesetzt war.
    War dieser Vorsatz ähnlich töricht wie sein Wunsch vorhin, die Tür einzutreten? Irgendwie sah er sich als eine Art Held, wenn auch als lächerliche Heldenfigur, einem Don Quichotte ähnlich. Er war kein Bow Street Runner , kein Ritter in silberglänzender Rüstung. Hätte er Rüstung getragen, wäre sie längst in der salzigen Meeresgischt verrostet. Ned war kein tapferer Ritter, der in glorreichen Schlachten zu Ruhm undEhre des Vaterlandes gekämpft hatte.
    Aber er hatte sich behauptet. Er hatte seine Zweifel niedergeschlagen. Und er hatte seinen Platz gefunden und gelernt, auf eigenen Füßen zu stehen, frei von den bitteren Fesseln der Knechtschaft.
    Es sah so aus, als hätte Lady Harcroft – und Kate als ihr verlängerter Arm – einen Helden nötig. Wenn er es schaffte, Lady Harcroft den inneren Frieden zu vermitteln, den er gefunden hatte, wäre das der endgültige Beweis, dass sein Sieg von Dauer war. Es wäre der Beweis, dass er wahrhaftig gewonnen und seine Dämonen ein für allemal gezähmt hatte.
    Gefasst sah sie ihm in die Augen. „Es hätte alles anders sein müssen.“
    „Halten Sie diesen Gedanken fest.“ Ned wagte nicht, sie zu berühren, um sie nicht wieder zu verängstigen. Stattdessen ging er vor ihr auf die Knie, machte sich klein und harmlos und blickte zu ihr auf. „Halten Sie den Gedanken mit beiden Händen fest. Können Sie ihn spüren?“
    Sie legte ihre gewölbten Hände aneinander.
    „Wenn ich Sie recht verstehe, versuchen Sie mir zu erklären, Ihr Ehemann hätte Sie nicht geschlagen, wenn Sie ein anderer Mensch gewesen wären.“
    Sie nickte knapp.
    „Ich möchte Ihnen zeigen, was ich gelernt

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