Im Wald der stummen Schreie
spürte nur, dass sie nach hinten gezogen wurde.
24
»Sind Sie aufgewacht?«
Ein Arzt stand in der Tür. Weißer Kittel, die Hände in den Taschen. Ein Namensschild in Brusthöhe – aber es gelang ihr nicht, den Namen zu entziffern. Er näherte sich und stellte sich, breit lächelnd, ans Fußende ihres Bettes. Ein sympathisches, offenherziges Gesicht hinter einer dicken Hornbrille.
»Wie fühlen Sie sich?«
Jeanne wollte antworten, aber ihre Lippen blieben wie zusammengeklebt. Sie fühlte sich leer – ein Schlauch, aus dem die Luft abgelassen worden war. Kalter Schweiß, der ihr während dieses stundenlangen Albtraums ausgebrochen sein musste, klebte auf ihrer Haut. Sie zwinkerte mehrmals mit den Augen. Allmählich konnte sie die Gegenstände um sich herum einordnen. Das Linoleum auf dem Boden. Der Spind aus Stahl. Die heruntergelassene Jalousie. Ein leeres Bett neben ihr. Ein gewöhnliches Krankenhauszimmer.
Schließlich brachte sie zwei Worte heraus:
»Es geht.«
Das Aussprechen dieser beiden Worte tat ihr weh. Ihre Stimmbänder schienen verkohlt zu sein.
»Sie haben wahnsinniges Glück gehabt«, sagte der Arzt.
Die Bemerkung hatte für sie einen ironischen Unterton. Sie erinnerte sich nicht daran, wie sie dem Flammenmeer entronnen war. Sie war ohnmächtig geworden. Sie war hierhergebracht worden. Hinter den Jalousien war der Tag angebrochen. Das war's.
»Ihre Atmung hat nur ganz kurz ausgesetzt«, fügte der Mediziner hinzu. »Sie haben keine Verbrennungen. Ihre Lungen werden sich von selbst reinigen. Man hat mir gesagt, Sie seien Richterin ...«
»Ja.«
»Falls Sie eines Tages Ihren Beruf wechseln wollten, könnten Sie zur Feuerwehr gehen.«
»Was ist mit François Taine?«
»Wem?«
»Dem Mann, den ich in der Wohnung retten wollte.«
Der Arzt rückte seine Brille zurecht. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich. Er runzelte die Brauen und zog eine traurige Miene.
»Sie konnten nichts mehr für ihn tun.«
Jeanne nahm die Nachricht relativ gleichmütig auf. Sie hatte also nicht geträumt.
»Jetzt müssen Sie sich um sich selbst kümmern«, fuhr der Arzt fort. »Diejenigen, die wie durch ein Wunder überlebt haben, haben eine Pflicht gegenüber sich selbst.«
»Wann kann ich das Krankenhaus verlassen?«
»In einigen Tagen. Sie stehen unter Beobachtung.« Er klopfte gegen seine Brust. »Die Lungen.«
Jeanne antwortete nicht. Der Arzt deutete ihr Schweigen richtig:
»Kommen Sie ja nicht auf die Idee, einfach abzuhauen. Die Richterin, die es nicht erwarten kann, ihre Arbeit wieder aufzunehmen. So was passt ins Kino. Zwei bis drei Tage Bettruhe, die werden Ihnen nicht schaden, glauben Sie mir. Ihr körperlicher Zustand ist nicht der beste. Ihr Blutdruck ist schwach. Sie leiden an Mangelernährung. Und Sie scheinen Antidepressiva wie Gummibärchen einzuschmeißen.«
»Ist das ein Verbrechen?«
Ihr aggressiver Ton nötigte dem Arzt ein Lächeln ab.
»Ein Verbrechen wäre es, diesen Aufenthalt nicht als Chance zu nutzen.«
»Wie spät ist es?«
»Neun Uhr morgens.«
»Der wievielte ist heute?«
»Montag, der 9. Juni.«
»Welches Krankenhaus?«
»Necker. Kinderklinik.«
Er machte wieder eine Geste in Richtung seiner Brille. Das Lächeln kehrte auf sein Gesicht zurück.
»Es gab sonst nirgendwo freie Betten. Sie befinden sich in der Abteilung für Endokrinologie.«
Jeanne senkte die Augen: In ihrem rechten Arm steckte eine Infusion. Ein anderer Schlauch reichte ihr bis ins Gesicht. Zweifellos ein Sauerstofftubus, der in eines ihrer Nasenlöcher eingeführt worden war. Der Arzt ging zum Fenster und drehte die Lamellen der Jalousien leicht auf. Licht würde ihr guttun. Er verabschiedete sich und versprach, am Nachmittag wieder vorbeizukommen.
Kaum dass sie allein war, entfernte sie die Schläuche, sprang aus ihrem Bett und öffnete die Spinde. Im dritten fand sie ihre Klamotten. Schwarz von Ruß. Sie tastete ihre Taschen ab. Griff nach ihrem Handy. Sie erinnerte sich, dass ihr Auto mitsamt ihrer Tasche noch in der Rue de Milan stehen musste.
Sie drückte eine Nummer.
»Reischenbach? Hier Korowa.«
»Wie geht's? Ich hab gehört, dass ...«
»Geht. Mir fehlt nichts.«
»Mist... Ich weiß nicht, was ich sagen soll ...«
»Ich auch nicht«, stammelte Jeanne. »Es ist unfassbar. Es ist ...«
Sie stockte. Auch der Polizist am anderen Ende der Leitung schwieg. Sie hatten einander verstanden. Sie durften nicht sentimental werden. Sie mussten an die Ermittlungsarbeit denken. Wir fangen
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