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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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von vorne an , dachte sie.
    »Was wissen wir über den Brand?«
    Es fiel ihr schwer zu sprechen. Der Rauch musste ihre Schleimhäute verätzt haben.
    »Bis jetzt nichts Amtliches.«
    »Aber?«
    »Die Gutachter sprechen von mehreren vorsätzlich gelegten Brandherden. Im Augenblick habe ich nichts Schriftliches auf meinem Schreibtisch.«
    »Besteht die Möglichkeit, dass man es nicht auf Taine abgesehen hatte?«
    »Kann ich mir, ehrlich gesagt, kaum vorstellen. Der Brand ist in seinem Stockwerk ausgebrochen.«
    »Okay«, antwortete sie. »Wir müssen sämtliche Fälle überprüfen, die er gerade bearbeitet hat. Und auch die Typen, die er hinter Gitter gebracht hat und die vor kurzem entlassen wurden. Hast du schon damit angefangen?«
    »Es ist gerade mal neun Uhr. Und ich bin mir nicht sicher, ob wir oder ein anderes Team der Mordkommission überhaupt mit dem Fall betraut werden.«
    »Wer sonst?«
    »Der Inlandsgeheimdienst oder die Abteilung für interne Ermittlungen. Geheimsache. Ein Richter ist nicht irgendwer.«
    »Und wenn dieses Verbrechen mit den Kannibalen-Morden in Verbindung steht?«
    »Das würde bedeuten, dass sich der Mörder bedroht fühlte. Dabei hat er im Augenblick nichts zu befürchten. Wir tappen völlig im Dunkeln.«
    »Taine hatte etwas herausgefunden.«
    »Ach ja?« Reischenbach hörte sich skeptisch an. »Wenn er etwas in der Hand hatte, ist es jedenfalls mit ihm untergegangen. Er hatte die Akte mit nach Hause genommen. Alles ist verbrannt.«
    Ihre Überzeugung verfestigte sich. Taine hatte etwas entdeckt, das so wichtig war, dass es sich lohnte, ihn mitsamt den Unterlagen zu verbrennen. Zweifellos hatte er leichtfertig einen »falschen« Anruf getätigt. Irgendetwas getan, was den Mörder alarmiert hatte. Joachim hatte umgehend reagiert.
    Sie sah noch einmal die Szene inmitten der Flammen vor sich: Taine, der mit dem Monster rang, das einen riesigen Schädel und krumme Hände hatte. Ihr wurde plötzlich etwas klar, was sie sich noch nicht eingestanden hatte: Die Kreatur mit dem feuerroten Haar war nicht der Rechtsanwalt, der Sohn des Spaniers, sondern das Kind mit der metallenen Stimme. Der Wald, er beißt dich ... Gab es zwei Personen? Besaß der Rechtsanwalt Joachim die Fähigkeit, sich in ein monströses Kind zu verwandeln?
    Sie schob ihre absurden Mutmaßungen beiseite. Jedenfalls war das Monster unter den Trümmern des Zwischengeschosses umgekommen.
    »Wurden die sterblichen Überreste von François bereits überführt?«
    »Was davon übrig ist, ja.«
    »Und der andere Leichnam?«
    »Welcher andere Leichnam?«
    »Habt ihr denn keine zweite Leiche gefunden?«
    »Nein.«
    »Die Bergungsarbeiten sind abgeschlossen?«
    »Offenbar ja. Ich verstehe nicht ganz: Hast du etwas gesehen?«
    Ihre Gedanken überschlugen sich. Der Kreatur schienen die beißenden Flammen nichts anzuhaben: Konnte es sein, dass sie dem Feuer lebend entkommen war? In diesem Fall war Antoine Féraud der Nächste auf »ihrer« Liste.
    »Ich würde gern vorbeikommen. Deine Akte durchsehen.«
    »Unmöglich. Du bist nicht für den Fall zuständig.«
    »Wir werden sehen.«
    »Schluss jetzt. Wenn es einen Zusammenhang gibt, dann werden der Kannibalen-Fall und die Brandstiftung einem Richter übertragen. Aber es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass du das sein wirst.«
    »Kann ich kommen oder nicht?«
    Reischenbach seufzte.
    »Beeil dich. Mir kann der Fall jederzeit entzogen werden.«
    »Komme sofort.«
    Jeanne legte auf. Ihr war kalt. Ihr war heiß. Sie taumelte ins Bad. Fahle Neonröhren. Ihre Hautfarbe erinnerte an ein gelb verfärbtes Waschbecken. An ihren Schläfen befanden sich noch schwarze Farbreste. Verbrannte Haarsträhnen standen ihr wie Dreadlocks vom Kopf ab. Ein echter Gespensterschädel.
    Sie hielt das Gesicht in den Wasserstrahl. Hob den Kopf. Betrachtete das Ergebnis. Unverändert. Sie zog sich an. Befestigte die Uhr an ihrem Handgelenk. 9.30 Uhr. Ihr blieben nur wenige Stunden. Bis sich die diversen Sicherheitsdienste und die Staatsanwälte endgültig abgesprochen hatten.
    Sie nahm ihr Handy, rief eine gespeicherte Rufnummer an. Keine Antwort. Sie hinterließ keine Nachricht. Mist, Féraud, wo steckst du?
    Draußen auf dem Korridor begegnete sie Kindern, die ihre Infusionsständer vor sich herschoben. Andere spielten matt in ihrem Zimmer. Jeanne wandte den Blick ab. Diese Bilder taten ihr weh. Treppe. Ausgangstür. Sie verschwand unter den Bäumen der mittleren Allee und eilte den Hang hinunter.
    Ein Taxi

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