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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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nehmen. Ihr Auto in der Rue de Milan abholen – die Plakette an der Windschutzscheibe würde wohl verhindert haben, dass es abgeschleppt wurde. Zur Mordkommission zum Quai des Orfèvres rasen. Die Ermittlungsakte mitgehen lassen. Aber vor allem in der Praxis des Psychiaters vorbeischauen. Jetzt konnte man nicht mehr um den heißen Brei herumreden. Antoine Féraud musste den Namen und die Adresse des Spaniers und seines Sohnes offenlegen. Jeanne würde die beiden stellen und zum Reden bringen.
    Sie ging durch das Portal und trat auf die Rue de Sèvres. Das gleißende Sonnenlicht blendete sie so, dass sie einen Schrei ausstieß. Sie schwenkte mehrfach den Arm, um ein Taxi anzuhalten. Wegen der Helligkeit konnte sie die Lämpchen auf den Autodächern nicht erkennen, die anzeigten, ob das Taxi frei war.
    Dieses schlichte Detail entmutigte sie. Alles erschien ihr hoffnungslos. Unerreichbar. Der Gehsteig zu schmal. Die Straße durch das viele Licht zu schwarz. Die Mauern – die des Necker-Klinikums, die des Instituts für blinde Kinder – allzu kahl. Sie lehnte sich gegen den Stein, spürte, wie ihr die Sinne schwanden ...
    In diesem Augenblick hielt ein Taxi.
    Sie stürzte hinein und stammelte atemlos:
    »Rue Le Goff 1.«

 
    25
    Der Code funktionierte tagsüber nicht. Auf den Briefkästen im Eingangsbereich standen die Namen der Hausbewohner und die Etagen ihrer Wohnungen. Dr. Antoine Féraud. Dritter Stock rechts. Jeanne nahm den Aufzug. In dem Gebäude roch es nach Staub und kaltem Marmor, wie in einer Kirche.
    Sie hatte den Taxifahrer gebeten zu warten. Sie wusste nicht genau, was sie zu dem Psychiater sagen würde, geschweige denn, ob er überhaupt da war. Sie läutete an der Tür. Keine Antwort. Läutete wieder. Ohne Erfolg. Klopfte. Vergeblich. Plötzlich schnürte ihr die Angst die Kehle ab.
    Jeanne griff nach ihrem Handy und rief bei der Auskunft an, um die Nummer der Praxis von Antoine Féraud zu erfragen. Einige Sekunden später war sie mit dem Sekretariat des Psychiaters verbunden. Sie spielte die Patientin, die versetzt worden war.
    Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen:
    »Dr. Féraud vergibt im Moment keine Termine mehr.«
    »Wie das?«
    »Ich bin nicht befugt, darüber Auskunft zu geben.«
    Jeanne betrachtete das Kupferschild an der Tür: »ANTOINE FÉRAUD. PSYCHIATER. PSYCHOANALYTIKER« Ihr Herz pochte wild.
    »Ist er krank?«
    »Ich bin nicht befugt ...«
    »Okay«, sagte Jeanne und schlug einen anderen Ton an. »Hören Sie mir mal gut zu. Ich heiße Jeanne Korowa und bin Ermittlungsrichterin am Landgericht Nanterre. Sie antworten mir jetzt also, oder ich schicke Ihnen innerhalb einer Stunde die Polizisten vorbei, die mit mir an diesem Fall arbeiten. Es sind umgängliche Menschen, die aber ziemlich unfreundlich werden können.«
    Schweigen.
    »Hat Antoine Féraud Sie persönlich angerufen, um Ihnen mitzuteilen, dass er keine Termine mehr wahrnimmt?«
    »Ja, heute Morgen.«
    Ihr fiel ein Stein vom Herzen.
    »Um wie viel Uhr?«
    »Neun.«
    »Sind Sie sicher, dass er es war?«
    »Ja. Ja ... doch!«
    »Was genau hat er Ihnen gesagt?«
    »Er hat sämtliche Termine abgesagt und mich angewiesen, bis auf weiteres keine mehr zu vergeben.«
    »Hat er Ihnen gesagt, wieso?«
    »Nein.«
    »Hat er Ihnen mitgeteilt, wo man ihn im Notfall erreichen kann?«
    »Nein, wir haben nur seine Handynummer.«
    »Hat er gesagt, wann er sich wieder melden wird?«
    »Nein.«
    Jeanne legte auf. Sie war versucht, einen Schlosser kommen zu lassen und sich gewaltsam Zutritt zur Praxis zu verschaffen. Um seine Akten zu durchstöbern. Die Adressen von Vater und Sohn in Erfahrung zu bringen. Nein, nicht jetzt, nicht auf diese Weise.
    Sie kehrte zum Taxi zurück. Bevor sie einstieg, fiel ihr Blick auf einen Zeitungskiosk. Sie lief dorthin und kaufte mehrere Tageszeitungen. Le Figaro. Le Parisien. Libération. Im Verkehrslärm stehend, überflog sie die Titelseiten und blätterte sie durch. Die Ausgaben vom Montag, dem 9. Juni, berichteten allesamt über den Mord an Francesca Tercia, ohne jedoch mehr Informationen zu liefern als das Journal du Dimanche . Die Lage hatte sich also kaum verändert. Die Pressekonferenz war abgesagt worden – und das aus gutem Grund. Bis zur Ernennung eines neuen Richters und der Einsetzung eines Ermittlungsteams würden keinerlei Informationen mehr nach außen gegeben.
    Sie stieg wieder in ihr Taxi und bat den Fahrer, in die Rue de Milan zu fahren. Unterwegs versuchte sie die Chronologie der

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