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Im Westen geht die Sonne unter

Im Westen geht die Sonne unter

Titel: Im Westen geht die Sonne unter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Anderegg
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wie ein Zombie mit leeren Augen und ohne Gruß mit ihm im Lift stand. »Status?«, herrschte er ihn an, bevor er bekanntgab, was er von Mel erfahren hatte. Zu seiner Verblüffung kam die präzise Antwort wie aus der Pistole geschossen:
    »97 Prozent der MT202, 82 Prozent MT103 hängen seit 10:30 Uhr in der Retry-Queue. Seit 11:05 Uhr geht gar keine Devisenbestätigung mehr raus. Unsere Gateways und das Inhouse-Netz werden im Moment überprüft. Die Guys von der Kommunikation haben bisher nichts gefunden. Zurzeit setzen wir Paralleltests auf mit Testmeldungen. Wir haben die Spezialisten für das alte Hostsystem aufgeboten, die sind in einer Stunde hier. Dann wissen wir, ob das Problem mit ihrer Software zusammenhängt.«
    Die alten Hostsysteme – er konnte den Ausdruck nicht mehr hören. Seit Jahren versuchte die Bank vergeblich, die Systemlandschaft zu vereinfachen und die zentrale IT auf eine neue Basis zu stellen. Zig Millionen hatten seine Vorgänger schon zum Fenster hinausgeworfen. Mit ihm würde sich das ändern, dazu war er über den Teich gekommen. Aber das Neue musste warten, solange das Alte nicht funktionierte. Don bedachte den Zombie mit einem giftigen Blick. »Warum muss ich aus dem Betrieb von diesen Problemen erfahren und nicht von meinen eigenen Leuten? Und vor allem: weshalb erst jetzt?«
    Der Senior der Netzwerkspezialisten griff ein, bevor der andere antwortete: »Die Monitoring-Software hat das Problem vor zehn Minuten gemeldet. Als wir hörten, Mel habe dich angerufen, machten wir uns sofort an die Arbeit. Wir dachten, die Lösung hätte Priorität.«
    »Da habt ihr verdammt richtig gedacht«, bellte Don. »Ich will, dass dieses Problem sofort gelöst wird.« Er ignorierte den ironischen Blick des Ingenieurs. Unbeirrt breitete er seinen Schlachtplan aus, der sich schon in seinem früheren Job an der Park Avenue bewährt hatte. »Dieser Raum ist ab sofort rund um die Uhr besetzt. Hier laufen alle Meldungen bei meinem Stab zusammen. Ich will umgehend über jede verdammte Kleinigkeit informiert werden, verstanden?« Er wartete, bis alle wenigstens genickt hatten, dann befahl er weiter: »Nächste Sitzung 1300. Macht euren Job, Leute, ich brauche Ergebnisse!«
    Dreizehnhundert: Die militärische Zeitangabe machte den Leuten Eindruck, glaubte er. Er wollte die Sitzung zügig beenden, als das ›rote Telefon‹ klingelte. So nannte er den Apparat im ›War-Room‹. Sein Stabschef hob ab, hörte kurz zu und reichte ihm den Hörer. »Glenys«, sagte er nur.
    »Was?«, brüllte Don ins Mikrofon.
    »Mrs. Gottdank vom Settlement ist am Apparat, Don.«
    Er bedeutete seinen unruhigen Mitarbeitern, sitzenzubleiben und drückte die Freisprechtaste.
    »Hannah, wir sind gerade in einer Sitzung. Geht’s um das SWIFT-Problem?«
    »Und, habt ihr den Fehler?«, fragte sie hastig mit ihrer rauen Männerstimme.
    »Wir arbeiten hart daran, glaub mir.«
    »Wie lange?«
    Die Standardfrage aller IT-Benutzer, wenn sie ein Problem plagte. Als wüsste er, wie lange seine Leute bräuchten, um das Problem zu lösen, dessen Ursache sie noch nicht einmal ansatzweise gefunden hatten. Aber Druck von außen war gut für die Motivation seiner Truppe. »Um 1300 wissen wir mehr«, antwortete er ebenso kurz.
    »Beeilt euch. Bei uns im Backoffice steht der Laden still, und du weißt, dass das sehr schnell sehr teuer werden kann.«
    »Alles klar, aber wir brauchen etwas Zeit. Ich schlage vor, die Meldungen mit Priorität eins inzwischen manuell abzuwickeln.«
    Sie schnaubte verächtlich. »Herzlichen Dank für die geniale Idee. Darauf wären wir im Leben nie gekommen. Was meinst du, was wir seit zwei Stunden versuchen? Es geht gar nichts mehr auf dem SWIFT-Netz. Auch die Terminals für die Direkteingabe sind tot. Nur noch jede zehnte Meldung geht durch. Der SWIFT-Support kennt das Problem.«
    »Shit.« Mehr fiel ihm nicht dazu ein.
    »Du sagst es.«
    Es knackte in der Leitung, dann ertönte das Freizeichen.
     

Broadgate, London, Stunde Fünf      
     
    Hannah Gottdank wünschte zum ersten Mal, die Wand ihres Büros wäre nicht aus Glas, sondern eine solide Mauer, durch die sie nicht ins Großraumbüro ihrer Untergebenen blicken könnte, durch die keine hitzigen Diskussionen, Wutausbrüche und kein ununterbrochenes Läuten der Telefone dringen würde. Bald zwanzig Jahre machte sie diesen Job, hatte sich bei der ›GLT‹ vom Mäuschen am Telex beharrlich bis zur Leiterin des Backoffice hochgearbeitet. Trotz zunehmender Hektik,

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