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Im Westen geht die Sonne unter

Im Westen geht die Sonne unter

Titel: Im Westen geht die Sonne unter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Anderegg
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und New York – jetzt!« Wieder krachte der Hörer auf das Pult.
    Greg und seine Kollegen verstanden ihn nur allzu gut. Als Market Maker die Übersicht zu behalten im schnelllebigen Devisenhandel war schon unter normalen Umständen eine tägliche Herausforderung. Ein Marathon im hundert Meter Tempo. Wenn aber keine verlässlichen Zahlen aus dem Backoffice vorlagen, verlor man rasch den Boden unter den Füssen. Greg schwitzte, weil er mit seiner riskanten Pfund/Dollar Position dabei war, einen steilen Abhang hinaufzurennen – auf glitschigem Untergrund und unter Wasser. Er war überzeugt, richtig gehandelt zu haben, als er am Vorabend kurz vor Handelsschluss in den USA massiv Pfund gegeben hatte. Alles deutete auf eine weitere Schwächung gegenüber dem Dollar hin. Beide Währungen tauchten seit Wochen, aber das Pfund war bis gestern immer noch klar überbewertet. Sobald der Preis gegen Dollar zu rutschen begann, verkaufte er binnen weniger Minuten und baute sich eine massive Shortposition auf, die gerade noch innerhalb der Overnight-Limite blieb. An diesem Morgen hatte er einen kleinen Schwarzen länger beim Stehcafé in der Liverpool Street Station Zeitung gelesen. Der süßliche Geschmack nach verbranntem Zucker passte perfekt zu seiner guten Laune. Ein ruhiger Morgen, nachmittags die Ernte einfahren – so hatte er sich den Tag vorgestellt. Nur rechnete er wie alle seine Kollegen nicht mit dem Controlling. Wer konnte ahnen, dass die obersten Wächter über das Risiko am frühen Nachmittag den Verstand verlieren würden? Alle Fremdwährungspositionen sofort glattstellen und abstimmen mit dem Backoffice, lautete die Anweisung. In seinen Ohren tönte das etwa wie: »Zieh dich nackt aus und erschieß dich.« Auch andere Banken, alle andern Banken, kämpften offensichtlich gegen die Schwierigkeiten auf dem SWIFT-Netz, und die Handelspartner in den USA reagierten wie üblich am schnellsten. Wenn sie überhaupt noch Kurse stellten, dann so breit, dass der Handel faktisch zum Erliegen kam.
    Nun schwitzte er mit dem Controlling im Nacken auf seiner Dollarposition, die er nicht loswurde, oder nur mit herbem Verlust. Er konnte die Verunsicherung mit Händen greifen. Nicht nur im Handelsraum breitete sich allmählich Panik aus, sie waberte auch über die Bildschirme und tropfte wie gelbe Galle aus den Lautsprechern der Broker.
    »Wollt ihr mich verarschen?«, brüllte der Chefhändler ins Telefon. »Achthundert Euro aus dem Sekundärgeschäft?« Er hörte kurz zu, dann tobte er weiter: »Ich bin nicht blind, verdammt noch mal. Hier steht achthundert, nicht zweihundert. Wir reißen uns hier den Arsch auf, verkaufen wie blöd und alles war nur ein Aprilscherz? Ich brauche die richtigen Zahlen, sonst schließe ich den ganzen verfluchten Laden. Shit!«
    Diesmal landete der Hörer mitten im Bildschirm. Greg warf einen Blick auf die Europosition, mit der er glücklicherweise nichts zu tun hatte. Die Bank war im Augenblick etwa dreihundert Millionen im Plus. Die Euro-Händler mussten also noch dreihundert Millionen verkaufen, um die Risikoposition auf Null zu bringen, wie es die Controller verlangten. Nach einem Klick auf die Detailanzeige sah er die achthundert Millionen, über die sich der Chefhändler so lautstark beklagt hatte. Sie stammten aus Titelverkäufen des Börsenhandels an den europäischen Börsen, wo in Euro abgerechnet wird. Rund fünfhundert Millionen davon hatten die Leute des Euro-Desks bereits wieder verkauft. Verblieben noch dreihundert, behauptete der Computer. Wenn er richtig verstanden hatte, betrug die Sekundärposition aus dem Börsenhandel aber nicht achthundert, sondern nur zweihundert Millionen. Statt dreihundert Millionen im Plus waren die Eurohändler also dreihundert im Minus. Das nannte er »Den Boden unter den Füssen verlieren«.
    Der Chefhändler stand auf und donnerte durch den Saal: »Alle herhören!« Die Telefongespräche wurden leiser. Weiter entfernte Händler rückten näher. »Die Positionen aus dem Hostsystem könnt ihr rauchen. Bis die SWIFT-Probleme gelöst sind, können wir uns nicht mehr auf diese Positionsmeldungen verlassen. Das heißt, wir handeln nur noch mit unsern Zahlen. Die Sekundär-Trades werden ab sofort ignoriert, verstanden?«
    Hitzige Diskussionen entbrannten. Fäkalwörter machten die Runde, ohne dass sich auch nur das leiseste Grinsen auf einem der Gesichter abzeichnete. Der Raum war aufgeladen wie eine Gewitterwolke vor dem Blitz. Die neue Anweisung traf Greg nicht

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