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Im Westen geht die Sonne unter

Im Westen geht die Sonne unter

Titel: Im Westen geht die Sonne unter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Anderegg
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Personalengpässen und vieler kleiner Krisen hätte sie keinen Tag missen mögen. Ihr Leben fand hier in der Bank statt, nirgends sonst, und sie liebte ihr Leben. Bis heute. Kurz nach acht Uhr hatten die Schwierigkeiten mit den SWIFT-Zahlungen begonnen, noch bevor ihre Mannschaft komplett war. Normalerweise lief der Interbank-Zahlungsverkehr über das wichtigste Netz automatisch ab. Sobald ein Geschäft an der Front abgeschlossen, ein Kredit gesprochen war, lösten die Hostsysteme im Keller die entsprechenden Anweisungen an die Korrespondenzbanken nach einem ausgeklügelten Schema genau zur richtigen Zeit aus. Was früher von Hand über verschlüsselte Telex-Nachrichten an die Partnerbanken geschickt wurde, lief heute als MT202, MT103 und ein Dutzend andere Meldungstypen ohne menschliches Zutun über das SWIFT-Netz. Milliardenbeträge an Devisen wurden so allein von ihrer Bank jeden Tag verschoben. Zeit war ein entscheidender Faktor, denn klappte die Überweisung eines 100 Millionen-Kredits nicht rechtzeitig, um das Konto bei einer Auslandsbank über Nacht zu decken, entstünde im besten Fall eine Schuld, die ihre Bank mit einem hohen Zinssatz bezahlen müsste. Im schlechteren Fall würden weitere Geschäfte, die von diesem Konto abhingen, nicht oder ebenfalls zu spät ausgeführt. Jede Verzögerung im Zahlungsverkehr konnte leicht einen Dominoeffekt auslösen, mit unübersehbaren Konsequenzen. Seit der großen Finanzkrise reagierten die Banken, auch ihre ›GLT‹, äußerst empfindlich auf jedes Anzeichen eines möglichen Liquiditätsengpasses.
    Solche Gedanken peinigten Hannah seit Stunden, als wäre der Anblick ihrer zunehmend nervöseren Mannschaft nicht Folter genug. Es hielt sie nicht länger an ihrem Schreibtisch. Sie lief den Gang zwischen den mit Plakaten, Anzeigen und mehr oder weniger intelligenten Sinnsprüchen verzierten Stellwänden hinunter zur Nostro-Disposition. Dieses kleine Team litt am meisten unter der Krise, denn die vier Leute überwachten und bereinigten täglich den Stand der ›GLT‹-Konti bei Partnerbanken in allen Währungen von Tokio bis New York.
    »›Sumitomo‹ kannst du vergessen«, klagte die Teamleiterin. »Ich habe vor einer Stunde nochmals telefoniert. Die erste Überweisung ging durch, die zweite und dritte warten irgendwo im Niemandsland. Jetzt ist es längst zu spät für Tokio.«
    Hannah zwang sich, ruhig zu bleiben. »Wie viel?«, fragte sie möglichst emotionslos.
    »Zwei Milliarden Yen im Minus, wenn die Angaben von ›Sumitomo‹ stimmen. Es ist eine Schande, Hannah, wir müssen die Gegenpartei nach unserem eigenen Saldo fragen. Ich glaub’s einfach nicht. Wann hört dieser Albtraum auf?«
    Hannah konnte ein bitteres Lächeln nicht unterdrücken. »Das ›Alien‹ wusste keine Antwort in der Sitzung um 1300«, sagte sie und imitierte dabei Don Allens militärischen Tonfall. Unter normalen Umständen verwendete sie den gemeinen Spitznamen nicht, den Don seinem zu klein geratenen Glatzkopf auf dem massigen Körper verdankte.
    Beide lachten kurz auf. Irgendwie musste man den Verdruss loswerden. Das Telefon klingelte. Ein externer Anruf. »Sicher einer, der seinen Kontostand wissen will«, feixte die Mitarbeiterin und hob ab. Nach kurzer Diskussion verstand Hannah, dass genau das der Fall war. Die Deutsche Bank in Frankfurt wollte Auskunft über ihr Konto bei ›GLT‹. Es wurde ein längeres Gespräch, das die Mitarbeiterin zuletzt in langsamem, besonders deutlich artikuliertem Englisch führen musste.
    »Die haben das gleiche Problem wie wir«, meinte sie erschöpft zu Hannah, nachdem sie aufgelegt hatte. »Wenn du mich fragst, wissen die genauso wenig wie wir, wo sie stehen.«
    »Hannah, kommst du mal bitte?«, rief ein hageres, älteres Männchen, von dem nur der Kopf hinter einem Gestell zu sehen war. »Es ist dringend.«
    »Was ist heute nicht dringend?«, brummte sie verstimmt, während sie sich geistig auf die nächste Hiobsbotschaft vorbereitete. Der Mann, der sie gerufen hatte, gehörte wie sie zum Inventar der Bank. Ein alter Hase, durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Sein Gesichtsausdruck sprach jedoch eine ganz andere Sprache.
    »Wir ersaufen hier in der Arbeit«, stellte er fest. Dabei zeigte er auf den Pendenzenberg auf seinem chaotischen Schreibtisch. Bei seinem Kollegen, der angestrengt auf den Bildschirm starrte, Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt, Hände auf der Tastatur, sah es auch nicht besser aus. Hannah verstand sofort, was die Leute

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