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Im Westen geht die Sonne unter

Im Westen geht die Sonne unter

Titel: Im Westen geht die Sonne unter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Anderegg
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sie. Ein verträumtes Lächeln umspielte ihre Lippen beim Gedanken an sein verdutztes Gesicht. Die waghalsige Berührung, sein eigener Mut erschreckte ihn damals mehr als sie. Jetzt schlief sie in diesem Zimmer, das immer noch aussah, als würde der Schüler Ryan gleich zurückkehren. Der kleine Globus mit der Beule stand noch am selben Ort auf dem Büchergestell neben dem dicken ›Ulysses‹, den sie nach zwei Seiten wieder ratlos hingestellt hatte. Alles war ihr vertraut, und doch fühlte sie sich als Fremde, vertrieben aus ihrer eigenen Wohnung. Sie gehörte nicht hierher. Nie zuvor hätte sie gedacht, dieses Zimmer, dieses Haus würden sie eines Tages abstoßen. Sie wollte so schnell wie möglich wieder ausziehen aus der temporären Bleibe, die sie ständig an die Ruinen ihres Elternhauses erinnerte. Ihre Mutter dachte sicherlich ähnlich, nur zeigte sie es nicht. Sie fühlten sich weder wohl noch sicher in Ryans Reihenhaus, trotz der häufigen Polizeipatrouillen auf der Kirkleton Avenue. Es war höchste Zeit, eine definitive Lösung zu suchen. Auch Ryan musste das allmählich begreifen. In letzter Zeit vergrub er sich zu sehr in seine Arbeit. Er reagierte nur widerwillig und einsilbig auf ihre Fragen. Das gefiel ihr gar nicht. Sie rief ihn an. Es dauerte lange, bis sie seine Stimme hörte.
    »Jessie, Schatz. Ich bin gerade auf dem Sprung ...«
    »Wir müssen reden.«
    »Entschuldige, ich muss dringend weg. Ich wollte dich unterwegs anrufen.«
    »Es geht um unser Haus, um dein Haus, um uns, um alles«, antwortete sie hastig. »Wir müssen uns sehen. Wo bist du?«
    »Am Flughafen. Ich ...«
    »Was?«, rief sie erschrocken. »Ich dachte, du bist in London.«
    »War ich auch, und jetzt fliege ich in die Schweiz. Es ist wichtig. Ich erkläre dir alles später. Muss auflegen. Ich liebe dich.«
    Aufgelegt, einfach aufgelegt. Sie fasste es nicht. Ich liebe dich, so hohl hatte sich die Floskel aus seinem Mund noch nie angehört. Sie wählte nochmals seine Nummer. Nach ein paar Summtönen meldete sich die Mailbox. Ärgerlich wiederholte sie das Spiel, dann später noch einmal. Ohne Erfolg. Großartig, ihr Fast-Ehemann hatte sich ohne ein Wort zu sagen in die Schweiz abgesetzt. Was auch immer ihn dazu bewogen hatte, der Gedanke daran verletzte sie. Wut kochte in ihr hoch. Entschlossen wählte sie eine andere Nummer.
    »Professor Saunders bitte«, verlangte sie brüsk von der Sekretärin. »Es eilt.«
    Wortlos leitete die Frau den Anruf weiter. Wenig später sprach sie mit Ryans Professor.
    »Was kann ich für Sie tun, Jessie?«
    »Ryan ist unterwegs in die Schweiz«, sagte sie unsicher. Es klang wie eine Frage.
    »Ich weiß. Er will sich vor Ort ein Bild machen von der andern Seite der Krise.«
    Sie verstand kein Wort, aber es hörte sich an, als ob der Ausflug einige Tage dauern könnte. »Er hat etwas Wichtiges vergessen«, flunkerte sie. »Ich muss es ihm nachsenden. Ich brauche die Hoteladresse, aber ich kann ihn nicht erreichen.«
    Saunders lachte. »Ach so, verstehe. Der gute Ryan ist manchmal zerstreuter als sein alter Professor. Augenblick, ich suche die Adresse.«
    Als sie aufgelegt hatte, betrachtete sie den Notizzettel nachdenklich. »Zürich, na warte«, knurrte sie aufgebracht.
     
    Zürich
     
    Sie hatten eine winzige Chance. Nur eine. Ihr ganzer fantastischer Plan hing davon ab, dass Li und seine Truppe zu Fuß bei der Bank anrückten. Dieses kleine Problem störte Ryan allerdings zurzeit nicht sonderlich. Ihn schauderte beim Gedanken daran, wie er Jessie die gemeinsame Exkursion mit Alex nach Zürich erklären sollte.
    »Du musst ihr die Wahrheit sagen«, flüsterte Alex, als könnte sie seine Gedanken lesen.
    »Sie reißt mir den Kopf ab«, gab er ebenso leise zurück.
    »Nicht wenn sie dich liebt.«
    Sie standen in der kleinen Arkade der alten Börse, von wo sie den diskreten Kundeneingang der Bank und die Talstraße überblickten, ohne aufzufallen. Alex’ allwissende Firma hatte herausgefunden, wo Li jedes Mal abstieg, wenn er Zürich besuchte. Er benutzte stets dieselbe Suite im Luxushotel ›Baur au Lac‹, nur zweihundert Meter von der Bank entfernt. Wenn Li einigermaßen bei Verstand war, würde er die paar Schritte zu Fuß gehen. Es war nicht anzunehmen, dass er einen Koffer voll Geld mit sich herumschleppte.
    Er hatte keine Zeit mehr, länger über Jessie nachzudenken. Alex zwickte ihn plötzlich in den Arm und zischte aufgeregt: »Sie kommen.« Sie zog sich blitzschnell in die Arkade zurück und

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