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Im Westen geht die Sonne unter

Im Westen geht die Sonne unter

Titel: Im Westen geht die Sonne unter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Anderegg
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nehmen die Tube. South Kensington liegt nur ein paar hundert Meter weiter die Straße runter. Dort nehmen wir die Piccadilly Line. Du bist doch im ›Méridien‹ abgestiegen?«
    »Ja, am Piccadilly Circus. Aber ich will jetzt nicht ins Hotel.«
    »Ich dachte, du möchtest erst mal darüber schlafen. Jetlag und so.«
    Sie schnaubte verächtlich. »Schlafen. Wie könnte ich jetzt schlafen. Darüber reden will ich. Wir dürfen keine Zeit verlieren.«
    »Wie du meinst.«
    Es sah nicht danach aus, als würde der Regen bald nachlassen. Er gab ihr seinen Schirm, den er bei dieser Wetterlage selbstverständlich bei sich trug und sagte:
    »Ich renne zur Station. Wir treffen uns dort. Alles geradeaus.«
    Weg war er. Ein schneller Blick zurück bestätigte ihm, dass sie folgte. Langsam, mit gesenktem Kopf. Ihre eleganten Schuhe waren doch nur bedingt für diese Stadt geeignet.
    Dicht gedrängt standen die Passagiere im klapprigen Wagen der Untergrundbahn. Der Gestank nach heißem Schmierfett und feuchten Kleidern konnte einem den Appetit verderben. Er fragte sie trotzdem:
    »Sandwich, Pizza, Hotdog oder etwas zu essen?«
    Sie schaute ihn angewidert an. »Alles was ich jetzt brauche ist ein Bier.«
    »Kein Problem. Wir sind in London, da gibt’s Bier an jeder Ecke. Im Gegensatz zu den Banken haben die Pubs noch keine Schwierigkeiten.«
    Er irrte sich. Als sie den ›Red Lion‹ betraten, traute er seinen Augen nicht. Sein Lieblingspub, nur wenige Schritte vom Piccadilly Circus entfernt, war nicht einmal halb voll. Um die Mittagszeit gab es sonst höchstens ein paar Stehplätze, wenn man nicht frühzeitig erschien. Die Banker, Anwältinnen, Herrenausstatter und Touristen, Handy in der einen Hand, Pint of Ale oder Bitter in der andern, konnten gar nicht vermeiden, sich hier auf die Füße zu treten. Nicht heute. Wenige Gäste standen am Tresen, ein paar Tischchen im vorderen Teil waren besetzt. Im hinteren Bereich gegenüber dem Eingang herrschte gähnende Leere. Und diese Leere drückte auf die Stimmung der Gäste. Sie unterhielten sich nur gedämpft, wo man sonst um diese Zeit kaum das eigene Wort verstand.
    »Nettes Lokal«, meinte Alex.
    Er holte kopfschüttelnd zwei randvolle Pints ›Fuller‹. Die Grabesruhe im Lokal hatte immerhin den Vorteil, dass sie sich ungestört unterhalten konnten. Sie redeten lange, feilten an ihrem Plan, wogen Risiken und Chancen ab, bis beide überzeugt waren, dass sie höchstwahrscheinlich scheitern würden. Wahrscheinlichkeit des Erfolgs verschwindend klein. Aber größer null war besser als null. Er war genauso entschlossen wie Alex, das Geheimnis des netten Herrn Li zu lüften. Es blieb nicht beim ersten Pint. Ein zweites folgte, dann ein drittes. Er spürte, wie seine Zunge mit jedem Schluck schwerer wurde und wunderte sich, dass Alex dieses Symptom nicht zeigte. Vielleicht lag es daran, dass auch seine Wahrnehmungsfähigkeit durch das viele Bier etwas gelitten hatte. Sie wollte noch immer nichts essen, nur reden, als hätte sie sehr lange Zeit geschwiegen.
    Plötzlich fragte sie: »Was ist mit Jessies Mutter?«
    Er verspürte Harndrang. Statt zu antworten, entschuldigte er sich, stand auf und ging zur Toilette. Wenn er sich redlich bemühte, würde ihm schon eine unverfängliche Geschichte einfallen, dachte er. Obwohl sie im Grunde die Ursache seiner Schwierigkeiten war, wollte er nicht mit ihr darüber sprechen. Als er an den Tisch zurückkehrte, war Alex eingenickt. Sie lehnte mit geschlossenen Augen an der Holzwand, drohte jeden Augenblick zur Seite zu kippen. Der Zeitunterschied hatte sie doch noch eingeholt. Er rüttelte sie sanft an der Schulter. Sie blinzelte, schaute ihn verwirrt an.
    »Bevor du wieder zu schnarchen beginnst, sollten wir lieber gehen«, lachte er.
    »Hab ich ...«
    »War ein Scherz. Aber viel hat nicht gefehlt.«
    Er schleppte sie mehr oder weniger zum Hotel. Auch in der Lobby hing sie schwer an seinem Arm.
    »512 glaube ich«, flüsterte sie undeutlich vor dem Aufzug. Sie kramte umständlich in ihrer Handtasche, dann streckte sie ihm die Schüsselkarte hin. »Du kannst das besser. Ich bin müde.«
    Sie schloss noch im Lift wieder die Augen. Er trug sie so unauffällig wie möglich ins Zimmer, legte sie aufs Bett, zog ihr die Schuhe aus und überließ sie ihren Träumen.
     
    Weymouth, Dorset, UK
     
    Jessie erinnerte sich an jedes Detail des Abends, als Ryan sie das erste Mal zaghaft geküsst hatte. Genau an diesem Platz hinter dem Vorhang in seinem Zimmer stand

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