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Im Westen geht die Sonne unter

Im Westen geht die Sonne unter

Titel: Im Westen geht die Sonne unter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Anderegg
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du mir das zu, Mrs. Cole?«
    Ein einfaches Nein hätte genügt, aber es wollte ihm nicht über die Lippen. Glücklicherweise lenkte die Frau Cole sie so sehr ab, dass sie nicht auf einer klaren Antwort bestand. Sie schmiegte sich an ihn und legte ihren Kopf auf seine Schulter. Das wohlriechende Haar umschmeichelte seine Nase. So verharrten sie eng umschlungen, jeder allein mit seinen Gedanken, bis sie plötzlich fragte: »Und – wie wollen wir es anstellen?«
    »Du wirst gar nichts anstellen ...«
    Sie stieß ihn unwirsch weg. »Glaubst du, ich lasse euch zwei auch nur einen Augenblick aus den Augen?«, protestierte sie.
    »Es ist zu ...« Er stockte. Zu gefährlich wollte er sagen. Kein überzeugendes Argument. Er wusste sich nur noch mit einer dreisten Lüge zu helfen: »Es geht nicht, glaub mir. Wir müssen das zu zweit durchziehen. Es ist alles für Alex und mich vorbereitet. Wir werden im Felstresor erwartet.«
    »Lass Alex zu Hause. Ich werde dich begleiten.«
    Er lachte säuerlich. »Lieb von dir, aber verstehst du Chinesisch? Alex hat lange in China gelebt und spricht fließend Mandarin. Sie kann chinesische Dokumente lesen und wird die wichtigen Informationen in Lis Tresor sofort erkennen.«
    »Ja sicher, ein Genie ist sie auch noch«, ärgerte sich Jessie. »Ich bin trotzdem dabei.«
    Er schaute sie kopfschüttelnd an. Sie misstraute ihm, das verstand er nur allzu gut. Nichts in der Welt würde sie jetzt noch davon abhalten, an ihrer tollkühnen Expedition in die Schweizer Alpen teilzunehmen. Unterstützung konnten sie im Grunde ganz gut gebrauchen.  
     
     
     
    Gotthardmassiv, Zentralschweiz
     
    Die beiden werden keine Freundinnen, dachte Ryan ein wenig traurig, während er auf eine Gelegenheit wartete, den langsamen Schweinetransporter zu überholen. Jessie saß auf dem Beifahrersitz, Alex mit steinerner Miene hinter ihm. Sie machte kein Hehl daraus: Für sie war seine Verlobte nur ein Klotz am Bein. Um ein Haar hätte Alex die Aktion abgeblasen, doch schließlich siegte ihr Ehrgeiz über die Abneigung gegenüber dem Risiko Jessie. Sie waren so nah dran wie noch nie, den monumentalen Coup der ›Galaxy Boom Industries‹ endgültig aufzudecken. In dieser Situation durften auch größere Risiken keine Rolle spielen, schon gar nicht persönliche Reibereien. Das hatte sie eingesehen, wenn auch ohne jede Begeisterung.
    Fast hätte er das Fenster zum Überholen verpasst. Er trat aufs Gas. Der ausgeleierte Motor des gepanzerten Leihwagens beschleunigte viel zu träge. Langsam krochen sie auf der Gegenfahrbahn am Transporter vorbei, der nicht enden wollte. Plötzlich tauchte ein zweiter Lkw hupend aus dem Nebel auf. Der schwere Truck näherte sich rasend schnell, nicht zu bremsen. Sie waren zu weit vorn. Es blieb keine Zeit, hinter  den Viehtransporter auszuweichen. Fluchend und schwitzend drückte Ryan das Pedal durch und hieb auf die Hupe. Im letzten Moment reagierte der Fahrer des Transporters, bremste ab und ließ ihn zurück auf seine Spur.
    »Willst du uns umbringen?«, schrie Jessie in panischer Angst.
    Leichenblass murmelte er eine Entschuldigung. Er beklagte sich undeutlich über die schmale Straße. Seine Hände am Steuer schwitzten und zitterten leise. Er hörte nicht weiter auf Jessies Vorwürfe, versuchte sich nur noch auf seine Aufgabe zu konzentrieren. Das Problem seiner zwei Frauen musste warten.
    Sie fuhren an der Ortstafel von Amsteg vorbei. »Wir sind bald da«, bemerkte er beim Abbiegen auf die Bergstraße. Zuerst schien der Nebel dichter zu werden, dann plötzlich blendete ihn strahlender Sonnenschein. Das Tal unter ihnen sahen sie nicht. Ein langsam fließender Strom weißer Watte bedeckte die Straße zum Gotthard, die Häuser, Wiesen und den Fluss. Das Sträßchen vor der Haarnadelkurve führte scheinbar ins Nichts, eine Rampe für den Start zum Flug über das Nebelmeer direkt in die Sonne. Er hatte noch das verstörende Bild vom abstürzenden Ikarus vor Augen, als er auf den Kiesplatz vor dem Felsentor einschwenkte. Ihr Auftritt sollte ähnlich überzeugend wirken wie die Ankunft des Chinesen vor drei Tagen, deshalb der schwere, gepanzerte Wagen, sein Nadelstreifenanzug und die Chauffeursmütze für Jessie. Sie würde beim Wagen warten und sofort Alarm schlagen, wenn sich vor dem Tor etwas bewegte. Das war allerdings leichter gesagt als getan. Mobiltelefon und Funkgerät funktionierten nicht im Innern des Felstresors. Die einzige Möglichkeit, Verbindung aufzunehmen, bestand darin,

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