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Im Westen geht die Sonne unter

Im Westen geht die Sonne unter

Titel: Im Westen geht die Sonne unter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Anderegg
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Naturtreppe. Seine Füße glitten unter ihm hinweg, doch sein Vordermann fing ihn sicher auf.
    »Sie lebt«, rief jemand.
    Erst begriff er nicht, was es bedeutete. »Alex?«, fragte er albern. In Gedanken hatte er mit ihrem Leben und fast auch mit seinem abgeschlossen. Die Erkenntnis durchfuhr ihn wie ein Blitz. Mit einem Schlag war er hellwach. Die Kraft kehrte in seine Beine zurück. »Wo ist sie?«, schrie er dem Vordermann ins Ohr.
    »Sie tragen sie zum Wagen.«
    Der Abstieg ging ihm zu langsam. Er schob den CIA-Mann brüsk zur Seite, sprang und rutschte den schroffen Pfad hinunter und wäre um ein Haar kopfüber auf die Straße geprallt. Ächzend erhob er sich, erblickte die blauen Männer, die Alex trugen und rannte ihnen hinkend nach.
    Sein Herz blieb stehen, als er ihren geschundenen Körper sah. Das Gesicht war blutverschmiert. Blutige Fetzen hingen an ihr herunter. Kleider oder Haut, er wusste es nicht. Sie konnte sich nicht bewegen, jammerte nur schwach und leise bei jedem Schritt der Männer. In ihren Augen sah er, dass sie ihn erkannte.
    »Mein Gott, was ist passiert? Wer sind diese Männer?«, rief Jessie entsetzt.
    »Später«, wehrte der Anführer der Gruppe ab. »Wir müssen sofort hier verschwinden, bevor die Polizei aufkreuzt. Alle. Sie fahren mit Alex ins Spital nach Altdorf. Eine Viertelstunde die Gotthardstraße hinunter, wo Sie hergekommen sind.«
    Vorsichtig legten sie die Schwerverletzte auf den Rücksitz der Limousine. Ryan setzte sich zu ihr, bettete ihren Kopf behutsam auf seine Knie. »Fahr los, schnell«, drängte er. Jessie gehorchte zögernd. Als sie vom Parkplatz in die Bergstraße einschwenkte, waren keine CIA-Leute mehr zu sehen. Ryan wunderte sich kurz, weshalb das Tor des Felstresors geschlossen blieb und keine der Wachen sie aufzuhalten versuchte, doch ein kehliger Schrei aus Alex’ Mund schreckte ihn aus seinen Gedanken. »Ruhig, nicht reden. Es wird alles gut«, flüsterte er ihr zu. Beruhigend streichelte er ihre Schläfe. Ein Zittern ging durch ihren Körper. Wieder stöhnte sie herzzerreißend. Der Schmerzenslaut endete in einem undeutlichen Gemurmel. Sie wollte ihm etwas sagen. »Nicht sprechen, Alex«, mahnte er, aber sie hörte nicht auf ihn. Mit übermenschlicher Anstrengung brachte sie ein Wort über die Lippen, das er deutlich verstand:
    »Schokolade.«
    »Schokolade? Was meinst du ...«
    Seine Stimme versagte. Sie durfte sich nicht weiter anstrengen. Wieder streichelte er ihr sanft über die Schläfe, da ging ein Ruck durch ihren Körper. Ein letztes Mal leuchteten ihre Augen auf, bevor sie den Glanz für immer verloren.
    »Nein!«, rief er verzweifelt.
    Die nächsten Worte erstarben in einem hilflosen Gurgeln. Ihr Kopf lag schlaff auf seinem Knie, das Leben war aus ihrem Körper gewichen. Der Tod erlöste sie von den unerträglichen Schmerzen, noch bevor sie die ersten Häuser von Amsteg erreichten.
     
    Fort Meade, Maryland, Zwei Wochen später
     
    Bob starrte mit leeren Augen auf seinen Bildschirm. Nach einer Weile klickte er entnervt auf die Schaltfläche, die seinen Bericht freigab. Ihm war klar, dass er das äußerst heikle Dokument nochmals gründlich hätte lesen und überarbeiten müssen, dann noch einmal und noch ein drittes Mal, bevor es seine Vorgesetzten zu Gesicht bekamen. Er hatte einfach nicht die Kraft dazu. Zum ersten Mal in seiner langen Karriere bei der NSA zweifelte er am Sinn seines Tuns, schlimmer noch: An seinen Fähigkeiten. Alex war nichts weniger als seine Ersatztochter gewesen, die er insgeheim gehütet hatte wie seinen Augapfel. Undenkbar, dass er das spöttische Lachen und die spitzen Bemerkungen seiner Alex nie mehr hören würde.
    Er schaute auf die Uhr. Zweieinhalb Stunden noch, dann würde er an ihrem Grab stehen, den Worten des Priesters lauschen, die trösten wollten, wo es keinen Trost gab. Alex war tot. Sie existierte nicht mehr, als hätte es sie nie gegeben. So einfach war das und so unfassbar grausam.
    Amerikanische Touristin am Gotthard zu Tode gestürzt, war die eine Schlagzeile, die so oder ähnlich einen kurzen Tag lang in den Schweizer Zeitungen stand. Mit dem Bandenkrieg in den Schweizer Alpen beschäftigten sich die Blätter auch außerhalb des kleinen Landes intensiver und länger. Wilde Spekulationen wucherten, aber keine stellte die Verbindung zur toten Touristin her. Es blieb ein ungelöstes Rätsel, wer die chinesischen Gangster – den Waffen nach zu urteilen waren es solche – erschossen hatte. Niemand schien

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