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Im Westen geht die Sonne unter

Im Westen geht die Sonne unter

Titel: Im Westen geht die Sonne unter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Anderegg
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der von Schneesturm?«, brummte er ins Kissen.
    »Guck mal hinaus.«
    Er drehte den Kopf langsam zur Seite, blinzelte. Jessie stand am Fenster, nackt wie Gott sie geschaffen hatte. »Eigentlich ganz gemütlich in meiner alten Bude, meinst du nicht auch?«, grinste er.
    »Ich zähle die Tage, bis wir im neuen Haus sind.«
    Er stand auf, legte seine Arme um sie und küsste ihren Hals. »Ich weiß, Liebes, es ist ein bisschen eng hier, aber idyllisch ist es trotzdem, Mrs. Cole.«
    Sie drehte sich um, schmiegte ihren weichen Körper eng an ihn und küsste ihn mit geschlossenen Augen auf den Mund. Vor dem Gesetz war sie jetzt Mrs. Cole. Sie hatten beschlossen, gleich dreimal zu heiraten. Eine kirchliche Zeremonie fanden beide peinlich, also begnügten sie sich am Samstag mit dem Gang zum Standesamt. Nur sie beide, Jessies Mutter und die Trauzeugen. Heute Sonntag war das große Fest mit allen Freunden angesagt. Darauf freute er sich wie ein kleiner Junge auf Weihnachten. Die dritte Hochzeit hingegen war die Hochzeit seiner Ehefrau, bei der er sich liebend gern vertreten ließe. Traumhochzeit am Boxing Day auf dem Schiff, irgendwo in der Karibik. Karibik O. K., aber der Rest?
    Die Straße vor dem Haus war weiß wie die Hausdächer, die Autos auf den Vorplätzen, die Spitzen der Zäune. Ein ungewöhnlich dicker Zuckerguss hatte die triste Kirkleton Avenue über Nacht in eine festliche Märchenwelt verwandelt. Von einem Sturm war nichts zu sehen, nur vereinzelt rieselte Schnee von einem Dach und verpuffte als glitzerndes Staubwölkchen.
    »Das sind mindestens fünf Zentimeter«, murmelte Jessie.
    Er nickte nachdenklich. »Fünf Zentimeter Neuschnee in Weymouth, da steht so gut wie alles still. Ich hoffe, die schaffen es alle irgendwie.«
    Die Sorge war nicht ganz unbegründet. Die letzten Gäste trafen eine gute Stunde später als geplant im ›Black Dog‹ ein. Zuletzt erschien sein alter Professor aus Bristol. Mit grimmiger Miene klopfte er die Stiefel ab, warf den Mantel auf den Garderobetisch und stapfte auf seinen Schüler zu.
    »Welche Laus ist denn dir über die Leber gekrochen?«, fragte Ryan besorgt.
    »Hast du schon einmal versucht, am Sonntagmorgen mit öffentlichen Verkehrsmitteln von Bristol nach Weymouth zu fahren?«
    »Dein MG ist wohl nicht wintertauglich.«
    »Sehr witzig, mein Lieber. Ich sage dir, Bus und Bahn sind es auch nicht. Geschlagene sechs Stunden war ich unterwegs.«
    »Tut mir leid, Irwyn, ehrlich.«
    Ryan ging mit ihm an die Bar. Er goss ein großzügiges Dram des ›Sherrywood Penderyn‹ aus der bereitstehenden Flasche in ein Glas und reichte es seinem weitgereisten Lehrer mit der Bemerkung: »Ich nehme an, du willst keinen Kaffee zum Aufwärmen.«
    Irwyn Saunders hielt das Glas gegen das Licht, prüfte die warme Bernsteinfarbe, steckte die Nase tief ins Glas und führte es schließlich mit wohlwollendem Lächeln an die Lippen. Den ersten kleinen Schluck behielt er im Mund, bis sich das reiche Karamell-Aroma im Gaumen verbreitete, dann ließ er den Whisky genüsslich durch die Kehle rieseln. »So sieht die Welt schon viel besser aus«, meinte er, bevor er zum zweiten Schluck ansetzte.
    »Ich bin froh, dass du es geschafft hast«, sagte Ryan. »Obwohl ich insgeheim gehofft habe, die Züge nach Southampton würden ausfallen.«
    Irwyn lachte. »Du willst wohl um keinen Preis auf dieses Schiff, was?«
    Er blieb die Antwort schuldig. Sein Gesicht sagte alles.
    Irwyn klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Wird schon werden«, beruhigte er. »Ich glaube, die Reise wird dich auf andere Gedanken bringen. Betrachte sie als eine Art Neuanfang.«
    Andere Gedanken, Neuanfang: eine schöne Vorstellung. Aber er machte sich nichts vor. Die Wunde, die Alex’ gewaltsamer Tod in sein Herz gerissen hatte, verheilte nicht so schnell. Er war glücklich, mit Jessie verheiratet zu sein. Er wollte den Rest seines Lebens mit ihr verbringen, aber da war immer wieder das Bild der brechenden Augen und Alex’ letztes Wort, dessen Bedeutung sich ihm nie erschließen würde. Er vermisste sie genauso wie er seine Jessie liebte.
    »Hallo, hörst du mir zu? «, fragte Irwyn, als er das leere Glas abstellte.
    »Entschuldige ...«
    »Ich sagte: stürzen wir uns ins Getümmel.«
    Das Getümmel entwickelte sich zum feuchtfröhlichen Gelage mit Rede und Gegenrede, mit bösartigen und anzüglichen Witzen von ausgesucht schlechtem Geschmack und reichlich solidem Futter, wie es sich für einen Pub gehörte. Ein reines

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