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Im Westen geht die Sonne unter

Im Westen geht die Sonne unter

Titel: Im Westen geht die Sonne unter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Anderegg
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sank er auf die Bank und wartete mit offenem Mund.
    »Ryan und ich«, fuhr sie fort, »wir haben heute etwas zu feiern.«
    »Die nächste Primzahl?«
    Schallendes Gelächter. Niemand hätte Fred diesen Geistesblitz zugetraut. Vielleicht zahlte sich die Ausbildung zum Police Constable doch noch aus. Auch das hätte keiner vom schwierigen Fred erwartet.
    Jessie betätigte nochmals ihre Tischglocke. »Beruhigt euch, Leute. Wir beide feiern heute unsere Verlobung.«
    Die Freunde stießen überraschte Rufe aus, applaudierten und ließen sie hochleben. Als hätte nicht jede und jeder so etwas erwartet. Sie und Ryan waren seit langem ein Paar, das wusste halb Weymouth. Steif aber glücklich ließ sie sich von den Gratulanten herzen und abküssen. Zuletzt hing sie in Ryans Arm. Er beugte sich theatralisch über sie wie Rhett Butler über seine Scarlett O’Hara. Ihre Lippen trafen sich zu einem nicht enden wollenden Kuss, begleitet vom rhythmischen Klatschen der ganzen Gästeschar.
    »Die Ringe! «, rief Jessies Kollegin, die an diesem Abend am Tresen stand.
    Die Freunde unterstrichen die Forderung lauthals im Sprechchor: »Wir wollen die Ringe sehen, wir wollen ...«
    Die Ringe. Verblüfft stellte sie fest, dass sie bisher keinen Gedanken an diese Kleinigkeit verschwendet hatte. Sie und Ryan gehörten zusammen. Sie würden heiraten, Kinder haben und glücklich sein bis ans Ende ihrer Tage. Das verstand sich von selbst. Sie brauchten keine Verträge oder Ringe. Die Rufe wurden lauter. Sie warf ihrem Schatz einen heimlichen Blick zu und musste wider Willen lachen. Ein derart gequältes Grinsen hatte sie noch nie auf seinem Gesicht gesehen. Er versuchte Zeit zu gewinnen, indem er an seinem leeren Glas nippte, doch es half nichts. Richtig blöd schaute er in die Runde, und alle wussten, dass sie das Mathematikgenie auf dem falschen Fuß erwischt hatten. Er schaute sie hilfesuchend an. Ein geschlagener Hund, der jeden Augenblick den nächsten Hieb erwartete. Nach den vielen Drinks arbeitete sein Hirn nur noch im Zeitlupentempo. Mit einer solchen Situation war es ohnehin überfordert, sie kannte das. Sie ließ ihn eine Weile schmoren, dann erbarmte sie sich und erlöste ihn mit einer Notlüge:
    »Wir haben beschlossen, die Ringe in unseren Ferien zu tauschen. Ihr müsst euch schon noch etwas gedulden, Leute.«
    »Ferien wovon?«
    Wieder war es Fred, der allmählich zur intellektuellen Hochform auflief. Ryan dankte ihr mit einem feuchten Kuss, der kaum vom abgestandenen Bier in ihrem Glas zu unterscheiden war. Die peinliche Situation war überstanden, die Unterhaltung nahm wieder Fahrt auf, und bald verstand sie ihr eigenes Wort nicht mehr. Zeit für den Kuchen. Sie verließ den Tisch und wollte hinter dem Tresen in die Küche verschwinden, als ihre Kollegin sie aufhielt.
    »Wohin soll’s denn gehen?«, fragte sie neugierig.
    »In die Küche.«
    »In euren Ferien, meine ich.«
    »Ach, mal hier, mal da. So genau wissen wir es noch nicht.« Auch das eine glatte Lüge. Ihr Reiseziel für die paar gemeinsamen Tage stand seit langem fest, aber es sollte ihr Geheimnis bleiben.
    Enttäuscht stellte die Kollegin eine Kanne unter den Dampfhahn, um frische Milch aufzuschäumen. Beinahe hätte Jessie den Klingelton überhört. Sie kannte diese Melodie. Die Filmmusik aus dem Klassiker ›Back to the Future‹, den Ryan seit seiner Schulzeit auswendig kannte. Es war tatsächlich sein Handy, das verlassen auf der Konsole unter dem Kleiderständer lag. Ihr Verlobter war in eine lautstarke Diskussion am Tisch vertieft. Er war ohnehin kaum in der Lage, ein vernünftiges Telefongespräch zu führen, schätzte sie. So drückte sie kurz entschlossen auf die Empfangstaste und hauchte mit der rauchigsten Stimme, die sie zustande brachte, ins Mikrofon:
    »Halloooo?«
    Einen Moment lang war es ruhig in der Leitung, dann kam der Summton. Auch gut. Anrufer, die ihre Nummer unterdrückten, konnte sie sowieso nicht leiden. Sie steckte das Telefon in die Tasche ihrer Jeans und holte den Kuchen aus der Küche. Unter dem Jubel der Freunde stellte sie den luftigen, wunderbar nach Mandeln duftenden Dorset Apfelkuchen mit reichlich Schlagsahne auf den Tisch. Das Gebäck stammte vom Konditor, der auch das Bed & Breakfast ihrer Mutter belieferte. Es war der beste Apfelkuchen weit und breit. Die richtigen Bramley-Äpfel mit der richtigen Reife, der richtige Zucker, das richtige Mehl, ein Kunstwerk, das man langsam, Krümel für Krümel, genießen musste. Viel zu

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