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Im Westen geht die Sonne unter

Im Westen geht die Sonne unter

Titel: Im Westen geht die Sonne unter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Anderegg
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schade für die angeheiterte Gesellschaft, aber sie verlobte sich ja nur einmal.
    Jeff, der aktuelle Verehrer ihrer Schulfreundin, auch er nicht mehr taufrisch, steckte die Nase etwas zu tief in die Sahne, als sie ihm sein Stück hinstellte. Lachend deutete sie auf seine weiße Nasenspitze und provozierte einen spitzen Schrei seiner Freundin.
    »Nein!«, rief sie verzweifelt.
    Zu spät. Jeff streckte grinsend seine Zunge heraus. Zum Entsetzen der Tafelrunde wurde das fleischige Organ immer länger, als rollte er eine Chamäleonzunge aus. Seine Freundin versuchte vergeblich, die Katastrophe zu verhindern. Er wich ihr geschickt aus, ließ den monströsen Lappen aus dem Mund hängen, schwang ihn einige Mal bedrohlich hin und her, dann machte sich das Ding selbständig und leckte den weißen Fleck von seiner Nase. Die Unterhaltung verstummte. Alle Augen starrten auf den schleimigen Muskel in Jeffs Gesicht, der nicht von dieser Welt sein konnte. Erst als sich die Zunge blitzschnell wieder in seinem Mund zurückzog, begannen die Zuschauer zu stöhnen und gequält zu lachen, schaudernd, angewidert die einen, bewundernd und begeistert die andern.
    »Zugabe«, verlangten nicht wenige.
    Jeffs Freundin lief dunkelrot an und zischte ihm gut vernehmlich ins Ohr: »Denk nicht mal dran!«
    »Willst sie wohl für dich alleine?«, brüllte Fred und krümmte sich vor Lachen. Er hatte sein Niveau wieder gefunden.
    Um Mitternacht auf der ›Esplanade‹ am Strand erinnerte sich Jessie an Ryans Telefon. Sie zog es aus der Tasche und warf einen Blick aufs Display. Ihr benebelter Verlobter hatte einen weiteren Anruf verpasst und zwei neue Kurznachrichten. Neugierig blätterte sie durch die Meldungen, ohne sie zu lesen. Nur eines fiel ihr sofort auf und es versetzte ihr einen Stich mitten ins Herz. Beide Nachrichten stammten von Alex.
    »Dieses Biest«, schimpfte sie aufgebracht.
    Endlich erwachte Ryan, der wie ein bierseliger Zombie an ihrem Arm hing. »He – ist das nicht mein Telefon? Was machst du da?«
    »Das frage ich mich allerdings auch, mein Lieber«, gab sie wütend zurück. »Was hast du mit dieser Alex am Laufen?«
    »Alex? Ach, du meinst die rasende Reporterin?«
    »Du weißt ganz genau, wen ich meine. Das Luder hat schon zweimal angerufen. Was will die von dir?«
    »Wie – du hast – gib mir das Handy. Was fällt dir ein?«
    Sie hatte eine wunde Stelle getroffen, und es gefiel ihr gar nicht. »Also, was ist?«
    »Nichts ist. Gib mir einfach das Telefon.«
    Aufgewühlt steckte sie ihm das Gerät in die Hemdtasche und sagte trotzig: »Heute Nacht schläfst du alleine.« Damit ließ sie ihn stehen. Ein feines, inneres Stimmchen protestierte, warf ihr vor, unerlaubt in seinen Sachen zu schnüffeln, aber sie hörte nicht zu. Sie hasste diese Alex. Zu gern hätte sie gewusst, was in den Nachrichten stand.
    Das Schicksal ersparte ihr dies gnädig. Alex hatte zweimal den gleichen Text geschickt: »Wir müssen uns dringend treffen!« Mit Ausrufezeichen.
     
    Bristol, UK
     
    Wahrscheinlich hatte sich ihr Körper noch nicht von der Erkältung erholt, sonst würde sie der Jetlag nicht dermaßen in die Knie zwingen. Diese Erklärung gefiel Alex wesentlich besser als die Vorstellung, ihre Niedergeschlagenheit habe psychische Ursachen. Die Frage, wie sie Ryan ihren Schwindel erklären sollte, ohne dass er ihr gleich die Tür wies, quälte sie während des ganzen, langen Nachtflugs. Sie hatte kaum geschlafen. Auch jetzt, auf dem kleinen Flughafen von Bristol, zwanzig Minuten von Ryans Büro entfernt, wollte in ihrem gemarterten Hirn kein vernünftiger Plan entstehen. So gesehen war sie ihm sogar dankbar, dass er nicht auf ihre Anrufe und Nachrichten geantwortet hatte.
    »Wenn Sie wollen, kann ich Sie auch irgendwo hinbringen«, meinte der Taxifahrer lakonisch.
    Sie war nicht in der Stimmung für witzige Dialoge, sagte nur: »Zur Universität bitte.«
    Auf der Fahrt versuchte sie es mit einer andern List. Sie konzentrierte sich auf ihre Umgebung, die glänzenden Lederpolster des fabrikneuen Wagens, die sonnige Parklandschaft draußen. Nur nicht an die bevorstehende Begegnung denken. Es gelang ihr nicht, aber wenigstens beruhigte es ihre Nerven.
    Sie hatte ihre Garderobe ganz auf College getrimmt, um nicht wieder aufzufallen unter den jungen Männern auf Entzug und den grauen Mäusen, die das alte Universitätsgebäude bevölkerten. Niemand beachtete sie, als sie mit ihrer Reisetasche die Treppe hochstieg, den Flügel des Mathematischen

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