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Im Westen geht die Sonne unter

Im Westen geht die Sonne unter

Titel: Im Westen geht die Sonne unter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Anderegg
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Jungen haben«, murmelte er albern. Es dauerte ein paar Sekunden, bis die Erkenntnis sein Großhirn erreichte: Mr. Meriwether war eine Lady. »Heiliger Strohsack«, brummte er fassungslos. War er nun für eine ganze Katzenfamilie verantwortlich?
    »Aber, aber, Doktor. Sind sie nicht niedlich?«
    Die Ästhetik der blinden Säuglinge hielt sich in Grenzen, aber darüber wollte er nicht mit Mrs. Harper streiten. Über Babies kann man nicht mit Frauen diskutieren. »Was machen wir jetzt?«, fragte er ratlos.
    »Füttern und in Ruhe lassen. Wenn die Zeit reif ist, kastrieren.«
    »Ach so.« Frauen und Babies. Wenigstens hatte er seinen weiblichen Kater wieder gefunden. Mr. Meriwether ging es den Umständen entsprechend gut. Das beruhigte ihn. Er konnte sich wieder auf seine Arbeit konzentrieren. Er schaute auf seine Uhr. Erst halb zehn. Die Modellrechnung würde noch mindestens bis elf dauern, doch man konnte nie wissen. Die Laufzeiten hingen stark von der Beschaffenheit der Daten ab und waren schwer abzuschätzen. Er wandte sich an die Hauswirtin: »Mrs. Harper.«
    »Ja?«
    »Danke für das Essen – und dass Sie Mr. Meriwether gefunden haben.«
    »Nicht der Rede Wert. Sie müssen besser auf Ihre Gesundheit achten, Doktor.«
    Er zuckte die Achseln und antwortete lächelnd: »Mir kann nichts passieren, solange Sie in der Nähe sind, Mrs. Harper.«
    »Gut, dass Sie das einsehen, junger Mann.«
    Auf dem Weg ins Haus zurück verabschiedete er sich von ihr, bevor sie die unvermeidliche Einladung zu Tee und Kuchen aussprechen konnte. »Ich muss leider nochmals ins Institut zurück. Die Computer überwachen.«
    »Computer«, brummte sie abschätzig. »Ich habe dieses moderne Zeug nie verstanden, will es auch nicht verstehen.«
    »Genau das sagen Sie jedes Mal«, grinste er.
    »Ist doch wahr. Gute Nacht, und machen Sie nicht zu lange.«
    Im Institut brannte noch Licht. Er fürchtete schon, Irwyn Saunders anzutreffen, doch der rote MG stand nicht vor der Tür. Er wollte das Resultat der Modellrechnung in Ruhe studieren. Mit seinem Professor ausführlich darüber reden konnte er später. Das penetrante Gebläse des Staubsaugers trieb ihn in die ruhige Kochnische am Ende des Korridors. Gerade rechtzeitig, um den späten Anruf auf seinem Handy entgegenzunehmen.
    »Jessie, du?«
    »Hast du eine andere erwartet?«
    »Unsinn, ich dachte, du musst arbeiten.«
    »Stimmt, aber ich hatte Sehnsucht nach einem Menschen, der nicht besoffen ist.«
    »Und du glaubst, ich sei so einer?«
    »Untersteh dich. Heute Abend haben sich wieder die besonders reizenden Exemplare im ›Black Dog‹ versammelt. Es macht mich krank. Erzähl mir etwas Schönes, bitte.«
    War vielleicht doch nicht Jessies beste Idee, im populären Pub in Weymouth als Serviererin anzuheuern. Normalerweise hätte ihre Bitte seinen Verstand in rasenden Leerlauf versetzt. Das Ergebnis wäre langes, betretenes Schweigen. Heute aber rettete ihn sein Kater. Er erzählte die Geschichte von Mr. Meriwethers überraschender Geschlechtsumwandlung und plötzlichem Kindersegen. Sie kicherte glücklich. Der Abend war gerettet.
    »Du kannst ja richtig lustig sein«, sagte sie anerkennend. Im Hintergrund hörte er grölende Männerstimmen und rhythmische Schläge. Faustschläge auf die alten Holztische, die er gut kannte. »Ich muss auflegen«, rief Jessie gehetzt. «Bis Freitag, Kuss.«
    Wie konnte sich seine verträumte, zarte Jessie nur mit solchen Idioten herumschlagen? Freiwillig. Es wollte ihm nicht in den Kopf. Ihre Erklärung war kurz: Sie der Menschentyp, er der Zahlentyp, so einfach war das. Unbegreiflich.
    Die Putzequipe zog sich zurück. Er setzte sich an seinen Computer und prüfte das Logfile des aktuellen Rechenlaufs. Die Modellrechnung war beendet, fehlerlos. Nur die üblichen harmlosen Warnungen über Lücken in den Datenströmen und ein paar Formatänderungen, die seine Eingabefilter überforderten. Sie würden das Ergebnis nicht wesentlich beeinflussen. Er rief das Visualisierungsprogramm auf, das die endlosen Zahlenreihen der Modellrechnung als leicht verständliche Tabellen und Grafiken darstellte. Die Prognose der Lithium-Preise für die nächsten zwei Wochen bestätigte seine Vermutung. Die Blase platzte. Die Wahrscheinlichkeit lag nun bei 95 Prozent, so gut wie sicher. Es war eine klassische Spekulationsblase, wie er der Journalistin gesagt hatte. Die Preise würden sich mehr oder weniger auf dem gleichen Niveau einpendeln, wo sie vor der kurzen Hausse lagen. Er

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