Im wilden Meer der Leidenschaft
so weit musste sie gar nicht gehen. Sie fand ihn im überwucherten Garten, wo er sich im Bogenschießen übte.
In der Zielscheibe, die in einiger Entfernung vom Haus hing, steckten schon etliche Pfeile, doch Balthazar setzte erneut den Bogen an. Er trug nur sein Hemd und seine enge Hose; seine Haare hatte er mit einem Schal zurückgebunden, und auf seiner Stirn hatten sich Schweißtropfen gebildet.
Er war völlig ruhig und konzentriert, während er mit genauem Blick sein Ziel präzise anvisierte.
Instinktiv legte sie sich die Hände über den Bauch und sah ihm zu, als er den Pfeil abschoss. Er landete im innersten Ring der Scheibe.
Erst dann drehte Balthazar sich um und sah sie. Langsam senkte er den Bogen und fuhr mit einem Finger leicht über das makellos polierte Holz. Er musste ihre Gedanken erraten haben, denn mit einem ironischen Lächeln sagte er: „Auch ich hatte manchmal Angst, ich sei wie mein Vater.“
Überrascht sah Bianca ihn an. Früher hatte sie dies tatsächlich gedacht und hatte die beiden als die zwei Seiten der gleichen, wertvollen Münze angesehen. Aber nun, da sie seit Wochen mit Balthazar zusammen war und sein Leben teilte …
Wusste sie, dass dies ausgeschlossen war.
„Wenn du wirklich wie dein Vater wärst“, erwiderte sie, „dann hättest du nie dein Leben in Reichtum und Opulenz in Venedig aufgegeben. Du hättest dich nie für ein Leben auf See entschieden.“
Er grinste. „Vielleicht kam ich hierher, um noch reicher zu werden? Vielleicht hat mir mein Vermögen in Venedig nicht gereicht.“
Bianca warf einen Blick auf das bescheidene kleine Haus, das weiß in der hellen Morgensonne glänzte. „Dann hast du dich aber nicht sonderlich geschickt angestellt.“
Er lachte und griff nach einem neuen Pfeil, den er in den Bogen einlegte. „Stimmt. Ich kam hierher, um auf eigenen Füßen zu stehen und nicht vom schmutzigen Geld meines Vaters abhängig zu sein.“
„Aber es gibt noch einen anderen Grund.“
Er sah sie nicht an, sondern hob den Bogen und visierte die Zielscheibe an. Sie beobachtete, wie sich unter seinem Hemd die Muskeln seiner Schultern und Oberarme anspannten.
„Trittst du nun in die Fußstapfen deiner Mutter und wirst zur Wahrsagerin?“ Er schoss den Pfeil ab, der in gerader Linie zur Zielscheibe flog und genau in der Mitte, neben dem letzten Pfeil, landete. „Kannst du etwa in die Zukunft blicken?“
Sie schüttelte den Kopf. „Leider nicht, sonst hätte ich mir eine Menge Ärger erspart. Das Einzige, was ich von meiner Mutter geerbt habe, sind meine Locken.“
„Aber trotzdem fließt ihr Blut in deinen Adern. Vielleicht weißt du noch gar nicht, was du alles von ihr geerbt hast, bis es sich eines Tages zeigt, wenn du es am wenigsten erwartest.“
Bianca ging hinüber zur Zielscheibe und zog die Pfeile heraus, wobei sie sich die Befiederung und die scharfen Pfeilspitzen aus der Nähe ansah. „Ich habe genauso wenig die Zauberkräfte meiner Mutter wie du die Böswilligkeit deines Vaters geerbt. Blutsverwandt oder nicht, du hast den gleichen Namen, nicht die gleiche Seele.“
„Auf meiner Seele lasten Sünden, die mindestens so schwer wiegen wie seine“, sagte Balthazar mit ruhiger und ausdrucksloser Stimme. Doch Bianca hatte inzwischen gelernt, hinter seine Maske zu blicken. Sie wusste, wie sehr es schmerzte, Zorn und Angst tief in einen Winkel der Seele zu verdrängen, wo sie zu einem harten Knoten wurden. Und sich so lange dort festsetzten, bis irgendetwas den Knoten auflöste und er verschwand.
Sie drehte die Pfeile in ihrer Hand. „Du meinst, weil du ihn umgebracht hast“, sagte sie ruhig.
„Ja. Ist das nicht eine unverzeihbare Sünde?“
„Ich weiß es nicht.“
„So würde jedenfalls die Kirche urteilen.“
„Sicherlich hast du mittlerweile bemerkt, dass auch ich nichts von einer Heiligen an mir habe. Auch ich habe gesündigt. Ich habe gelogen, gestohlen und war unkeusch.
„Hast du getötet?“
„Nein, aber hätte ich, wenn Ermano Grattiano mein Vater gewesen wäre.“ Sie warf die Pfeile beiseite und ging langsam auf ihn zu. Schließlich stand sie so nahe vor ihm, dass sie ihn hätte berühren können. Gerade nahe genug, dass er den Wunsch nach Wahrheit in ihrem verständnisvollen Blick ablesen könne. „Erzähl mir, was damals passiert ist.“
Einen Moment lang sah er sie an, als wolle er ergründen, ob sie die Wahrheit wirklich wissen wollte. Dann sah er an ihr vorbei, in eine Szene der Vergangenheit, die nur vor seinem
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