Im Winter der Löwen
verunsichert wirke. Er hatte genickt und war aufgestanden und hatte das Gespräch mit dem Mädchen geführt. Er hatte gesprochen, das Mädchen hatte zugehört. Seine Stimme hatte den Raum ausgefüllt, und das Mädchen hatte ernsthaft genickt, und seine Kraft war zurückgekehrt. Als die Aufzeichnung begonnen hatte, war ihm nur noch ein wenig schwindlig gewesen, aber er hatte sich nicht mehr daran erinnern können, was genau ihn eigentlich beunruhigt hatte.
Die Herren über Leben und Tod, hatte er gedacht, und das Mädchen hatte von ihrem Freund erzählt, einem sanftmütigen, liebevollen Musterschüler, der drei Menschen getötet hatte und dann sich selbst. Er hatte genickt und auf jede Antwort, die das Mädchen gegeben hatte, eine Frage zu stellen gewusst. Gemeinsam mit dem Mädchen war er in einem Fluss aus Worten geschwommen. Seine Worte, ihre Worte. Ein stetiger Fluss.
Konzentriert war das Mädchen gewesen, nicht verunsichert. Da hatte Tuula sich geirrt, und Hämäläinen war ohnehin geneigt, an Tuulas Urteilsvermögen zu zweifeln. Wie hatte sie überhaupt auf die Idee kommen können, ihn an zwei aufeinander folgenden Abenden mit Frauen über ihre verstorbenen Männer sprechen zu lassen? Die Witwe des Tangokönigs, die Freundin des Amokschützen.
Er starrte den Fernseher an und spürte Irenes Hand in seinem Nacken. Das Kraulen verursachte Gänsehaut. Er schloss die Augen und hörte die Stimme des Mädchens, die aus dem Fernseher drang.
»Ich werde ihn nicht vergessen«, sagte sie. »Er ist immer bei mir.«
Seine eigene Stimme, die eine Frage formulierte. Ruhig, beherrscht, warm und verständnisvoll, dennoch auch skeptisch und mahnend. Die Herren über Leben und Tod, hatte Tuula gesagt. Etwas an diesem Satz ging ihm nicht mehr aus dem Kopf.
»Das Einzige, was ich ihm nicht verzeihen kann, ist, dass er nie mit mir gesprochen hat«, sagte das Mädchen. Dann eine andere Stimme. Ein wenig krächzend. Der Psychologe, der im Publikum gesessen hatte und von Zeit zu Zeit etwas wissenschaftlich Fundiertes hatte beisteuern sollen. Dann hörte er wieder seine eigene Stimme eine Frage stellen. Eine Frage, die im Raum stand.
»Hätte ich es gewusst, hätte ich ihn davon abgehalten.
Ich hätte es gekonnt«, sagte das Mädchen.
Ein Moment der Stille.
»Ich hätte ihn davon abhalten können«, sagte das Mädchen noch einmal.
Irenes Hand in seinem Nacken. Hämäläinen öffnete die Augen. Er sah sich selbst auf dem Bildschirm bedächtig nicken. Lang anhaltender Beifall.
»Gut«, sagte Irene. Es klang merkwürdig tonlos.
»Was sagst du?«, fragte er.
»Gut. Du warst gut heute«, sagte Irene.
Irene kraulte seinen Nacken, und er fühlte sich müde.
»Wie geht’s den Kobolden?«, fragte er.
»Gut«, sagte Irene.
»Wann sind sie eingeschlafen?«
»Spät. Kurz bevor du kamst.«
Er nickte.
»Lotta hat am Wochenende ihren ersten Wettbewerb mit dem Langlauf-Team. Sie war ziemlich aufgeregt, und Minna hatte dann natürlich auch keine Lust zu schlafen.«
Er nickte.
»Schrecklich«, sagte sie, und er sagte: »Bleiben Sie uns gewogen«, aber das war auf dem Bildschirm. Der Abspann lief, und Irene sagte noch einmal: »Schrecklich.«
»Was …«
»Das Mädchen. Es hat so … konzentriert gewirkt. Ihr beide habt sehr konzentriert gewirkt.«
Er nickte.
»Du hast noch nie so konzentriert auf mich gewirkt wie in dieser Sendung«, sagte sie.
»Danke«, sagte er.
»Es ist kaum zwei Wochen her, und schon spricht niemand mehr davon. Man weiß kaum noch, wie viele Menschen dieser Junge umgebracht hat.«
»Drei«, sagte Hämäläinen. »Und fünf verletzt. Du hast Recht, wir waren da …« Er verschluckte den Satz. Wir waren da nicht ganz tagesaktuell, hatte er sagen wollen. Es war nicht einfach gewesen, sie hatten zunächst versucht, die Eltern des Amokschützen oder Angehörige der Opfer einzuladen und waren nach erfolglosen Bemühungen schließlich auf die Freundin des Jungen gestoßen. Nicht ganz tagesaktuell, aber doch auf der Höhe des Geschehens. Das Mädchen war ein guter Gast gewesen.
Irene kraulte seinen Nacken, seinen Rücken. Die Kinder schliefen.
»Hoffentlich kann das Mädchen das alles irgendwann hinter sich lassen und weiterleben«, sagte Irene.
28. Dezember
27
Am Morgen gab Sundström eine gut besuchte Pressekonferenz. Tuomas Heinonen sah blass aus und starrte auf seinen Computer, und Petri Grönholm stellte ihm eine Frage, die ihn irritierte.
»Wer ist denn dieser Ari Pekka Sorajärvi?«
Joentaa sah ihn
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