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Im Winter der Löwen

Titel: Im Winter der Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Costin Wagner
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noch, dass eine öffentliche Diskussion über diese Frage in Gang gekommen war, und auch in dem Gespräch, das er mit Niskanen geführt hatte, war das Thema von Bedeutung gewesen. Wenn er sich recht erinnerte, hatte er Niskanen nahegelegt, das Haus abzugeben. Hatte eine Reihe von suggestiven und eine Reihe von rhetorischen Fragen gestellt, und er erinnerte sich auch an den Schweiß auf Niskanens Stirn. Immer wieder hatte eine Assistentin kommen müssen, um den Schweiß aus seinem Gesicht zu wischen. Er spürte einen vagen Impuls, herauszufinden, was Niskanen so machte. Wo er lebte. Wie er lebte.
    Er löste sich von der Glaswand und verließ den Raum. Er ging durch den Flur des Großraumbüros zum Aufzug. Links und rechts von ihm saßen seine Mitarbeiter vor surrenden Computern. Er fuhr hinunter. Die Cafeteria war noch nahezu unbesetzt, wie immer in der Zeit zwischen Morgen und Mittag. Er holte sich einen großen Milchkaffee und setzte sich an einen der Tische. Zwei junge Nachrichtenredakteurinnen kicherten in einiger Entfernung um die Wette. Ansonsten war wenig zu hören.
    Draußen lag der Park in Schnee gehüllt. Er betrachtete die peinlich saubere helle Tischplatte und schüttete noch ein wenig Zucker in den Becher. Er trank. Niskanen. Ob Niskanen noch Ski lief? Durch verschneite Wälder.
    Hinter ihm giggelten und tuschelten die jungen Redakteurinnen, und er fragte sich nach einer Weile, ob sie über ihn lachten. Vermutlich nicht. Vermutlich wollten sie ganz im Gegenteil seine Aufmerksamkeit gewinnen. Er wendete den Blick und lächelte zu ihnen hinüber. Ihre Gesichter erstarrten in Ehrfurcht.
    Er trank aus und stand auf. Er lief. Er dachte an den Gerichtsmediziner. Er versuchte, sich zu erinnern, wie er geheißen hatte, aber der Name wollte ihm einfach nicht einfallen. Die Polizisten hatten den Namen genannt. Hatte der Gerichtsmediziner nicht damals, im Gespräch vor der Sendung, gesagt, dass er bald Vater werde? Doch, ganz sicher sogar. Die Augen des Gerichtsmediziners hatten geglänzt, und sie hatten einige Minuten über Kinder gesprochen – und jetzt verlangsamte sich die Welt. Sie blieb nicht stehen, aber sie wurde immer langsamer. Er sah den Aufzug in der Ferne und hinter den Scheiben den Park, den Winter, und er spürte einen schleichenden Schmerz im Magen, im Rücken.
    Kalle, hatte der Gerichtsmediziner gesagt. Sein Sohn werde Kalle heißen und bald zur Welt kommen.
    Er hatte das Gefühl zu fallen.
    Er lag am Boden.
    Der Schmerz wanderte langsam durch seinen Körper, und über ihm hing ein Himmel aus Glas.
    Er schwebte.
    Dann sah er in die Gesichter der beiden Redakteurinnen von den Nachrichten. Hübsch waren sie. Vor allem die eine. Ab und zu kamen diese Gedanken, die er sich sogleich verbot. Die er im Bruchteil einer Sekunde unterbinden konnte. Er war Familienvater. Ein ganz normaler Familienvater. Die Gesichter der Frauen waren über ihm. Er lag. Er begriff nicht, warum.
    Die beiden Redakteurinnen schienen etwas sagen zu wollen, aber er bekam nur eine dumpfe Ahnung ihrer Worte und watete durch einen Sumpf. Schritt für Schritt. Die beiden Frauen schienen mit ihm sprechen zu wollen. Er nickte. Er nickte, um zu signalisieren, dass er sie verstehen würde. Sie mussten keine Angst haben.
    Er entfernte sich von ihnen. Er hörte neue Stimmen, aber er verstand die Worte nicht. Er wollte zuhören. Zuhören und verstehen, das, was er am besten konnte, aber es ging nicht. Über ihm waren der blaue Himmel und die verschneiten Bäume.
    Er hörte Tuulas Stimme. Tuulas durchdringende Stimme, die einen Schrei ausstieß. Dann war ihr Gesicht über ihm. Tuulas Gesicht und dahinter der blaue Himmel. Tuula sagte etwas, das er nicht verstand. Er nickte.
    Er dachte an den Gerichtsmediziner und daran, dass er sich an seinen Namen nicht erinnern konnte, aber an den seines Sohnes. Kalle.
    Er nickte und schloss die Augen und sah Niskanen.
    Niskanen.
    Lebende Legende.
    Gefallener Engel.
    Er sah Niskanen hinter seinen geschlossenen Augen. Kraftvoll lief er durch den verschneiten Wald, den Kopf gesenkt, ganz fokussiert auf die Eleganz seiner Bewegungen, in einem malerischen Winter.
29
    »Ari Pekka Sorajärvi?«, fragte Joentaa.
    »Wer will das wissen?«, entgegnete der Mann im Türrahmen.
    »Ich«, sagte Joentaa.
    Der Mann fixierte ihn einige Sekunden. Rundes Gesicht. Selbstsicherer Blick. Anzug und Krawatte. Auf dem Sprung ins Büro. Die Nase sorgfältig mit einem weißen Verband abgedeckt.
    »Und wer sind Sie?«, fragte der

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