Im Winter der Löwen
ausgesetzt hatte. Er hörte die Gespräche, fragende Stimmen mischten sich mit entschiedenen, erregte mit beruhigenden. Sie gingen den breiten weißen Flur entlang, blieben nach einer Weile an einer Scheibe stehen und sahen Kai-Petteri Hämäläinen auf einem Bett liegen. Mehrere Schläuche führten in seinen Körper, er schien zu schlafen.
»Eine Frage von Zentimetern«, sagte eine Stimme in ihrem Rücken. Joentaa drehte sich um und sah in das Gesicht eines jungen Mannes, vermutlich waren sie etwa im selben Alter. Sein Haar war kurz geschnitten, und der Körper, der sich unter dem blau-grünen Kittel abzeichnete, wirkte sehr schmal.
»Eine Frage von Zentimetern«, sagte er noch einmal. Seine Stimme klang ruhig und zuversichtlich. Joentaa dachte an Rintanen, den Arzt, der Sanna betreut hatte in den letzten Wochen ihres Lebens. Seine Stimme hatte ähnlich geklungen.
»Er wird überleben«, sagte der junge Arzt. »Vermutlich muss er nur wenige Tage bei uns bleiben, dann könnte das schon eine Pflegekraft bei ihm zu Hause bewältigen.«
Westerberg nickte, und Paavo Sundström atmete tief ein und tief aus. Tief ein und tief aus. »Na bravo«, sagte er. »Bravissimo.«
Der junge Arzt und Westerberg sahen ihn irritiert an, und Sundström sagte noch einmal: »Bravo, Bravissimo. Ja, ja.« Er zog sein Handy hervor und sagte, er müsse telefonieren. Er entfernte sich, und Joentaa wandte sich wieder dem Fenster zu, hinter dem Hämäläinen in einem kargen Raum auf einem frisch bezogenen Bett lag.
»Wann können wir mit ihm sprechen?«, hörte er Westerberg fragen.
»Bald. Ich denke, bald. Vielleicht schon heute Abend.«
»Es ist von großer Bedeutung für uns. Vermutlich kann er uns wichtige Hinweise liefern.«
»Das verstehe ich«, sagte der Arzt.
Joentaa betrachtete Hämäläinen, der friedlich zu schlafen schien. Er wendete sich ab und sah an einer Seitenwand Unmengen bunter Karten. Danksagungen von Müttern und Vätern, deren Kinder in dieser Klinik entbunden worden waren. Joentaa dachte darüber nach, wer auf die Idee gekommen war, diese Karten nicht in der Geburtenstation, sondern hier aufzuhängen. Er trat näher heran und las. Oft hatten die Eltern für ihre Söhne und Töchter mit unterschrieben, manchmal sogar mit einer krakeligen Unterschrift, um zu suggerieren, dass die Säuglinge selbst geschrieben hatten. Joentaa betrachtete die Bilder, die schwungvollen, von Glück geprägten Buchstaben, die wiederkehrenden Formulierungen. Er dachte vage an Larissa. Oder wie auch immer. Er hatte keine Ahnung, ob sie verhütete. Es interessierte ihn nicht. Er hatte keine Ahnung, wer sie war. Er wollte es nicht wissen. Er hatte Lust, sie anzurufen. Ihre Stimme zu hören. Er stellte sich vor, sie zu berühren.
Er dachte an die letzte Nacht im Krankenhaus. Jahre lag diese Nacht zurück, aber sie war immer die zuletzt vergangene. Sanna hatte geschlafen, er hatte ihre Hand gehalten. Er dachte an den letzten Moment. An den Schmerz, der seitdem unter seiner Haut pulsierte. Er spürte ihn nicht, er wusste nur, dass er da war.
Er löste sich von der Wand und sah wieder Hämäläinen hinter der Scheibe liegen. Rechts im Augenwinkel nahm er eine Bewegung wahr. Dann trat eine Frau in sein Blickfeld und an das Sichtfenster heran. Sie schüttelte den Kopf und presste die Lippen zusammen. Ihre Blicke trafen sich.
»Ich habe es aus dem Fernsehen erfahren«, sagte sie.
Joentaa nickte, und die Frau wendete sich wieder dem Fenster zu.
Sie schwieg eine Weile.
»Aus dem Fernsehen erfahren«, sagte sie dann kaum hörbar. »Wie so vieles von allem, was ihn betrifft.«
31
Sie fuhren zum Fernsehsender. Direkt vor dem Gebäude standen mehrere Einsatzfahrzeuge. Die Spurensicherer in ihren weißen Overalls harmonierten sowohl mit dem Schnee als auch mit dem futuristischen Glasbau, der sich hinter ihnen Richtung Himmel erstreckte.
Westerberg telefonierte. Sundström telefonierte. Westerberg schrie einen Mitarbeiter an und schaffte es, selbst das träge klingen zu lassen. Sundström sprach mit Nurmela, der sich fast minütlich meldete. Die Ermittlungsbehörde in Helsinki hatte für 14 Uhr eine Pressekonferenz angesetzt. Sundström bemühte sich, Nurmela klar zu machen, dass er nicht mit auf dem Podium sitzen werde und es den Kollegen überlassen wolle, auf die enge Zusammenarbeit zwischen Helsinki und Turku hinzuweisen.
Sie betraten den Glasturm. Hinter der Scheibe saß nur ein Pförtner, und der sah sie kaum an, als sie an ihm vorbeigingen.
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