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Im Winter der Löwen

Titel: Im Winter der Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Costin Wagner
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im Büro, im Neonlicht an seinem Schreibtisch, studierte Heinonens und Grönholms Recherchenotizen und las die Zeitungsartikel, die Päivi auf ordentlichen Stapeln bereitgelegt hatte. Jede der Katastrophen hatte mehr oder weniger viele zumeist sachliche, manchmal reißerische, mal souverän, mal unbeholfen formulierte Texte nach sich gezogen.
    Eine Lokalzeitung in Savonlinna hatte wochenlang über eine junge Familie berichtet, die 2003 beim Absturz eines Passagierflugzeugs in Russland ums Leben gekommen war. Bilder des jungen Vaters, der jungen Mutter, sogar ein unkenntlich gemachtes Bild des noch nicht getauften Babys. Ein Interview mit dem Gemeindepfarrer. Eines mit der Schwester des Mannes. Ein weiteres mit Arbeitskollegen. Alle Artikel stammten aus der Feder desselben Journalisten. Joentaa notierte sich den Namen.
    Am Ende war auf der Titelseite der Zeitung das Haus abgebildet worden, in dem die Familie gewohnt hatte. Im Bildvordergrund stand lächelnd ein Mann mittleren Alters, der das Haus gekauft hatte, um in Zukunft darin zu leben. Der Mann war interviewt worden. Man hatte ihm die Frage gestellt, ob es nicht unheimlich sei, in diesem Haus zu wohnen, im Wissen um die Tragödie, und der Mann hatte verneint und gesagt, dass er selbst verwitwet sei und an Tragödien gewöhnt.
    Kimmo Joentaa betrachtete noch eine Weile den lächelnden Mann, dann legte er den Text zur Seite und nahm den nächsten zur Hand.
    Er machte sich Notizen, erstellte Listen, ordnete den Verstorbenen Angehörige zu, stöberte im Leid anderer und förderte nichts zu Tage außer Namen. Namen wie den von Erkki Koivikko, Vater einer Tochter, leitender Angestellter einer Bank. Etwas, das Koivikko gesagt hatte, ging ihm nicht aus dem Kopf. Fünfzehn Jahre. Und auf der Bahre hatte nicht seine Tochter gelegen, sondern …
    Er schloss die Augen und versuchte, sich auf das zu konzentrieren, was Koivikko gesagt hatte, aber es gelang nicht mehr. Er betrachtete noch eine Weile die Namen auf dem weißen Papier, dann legte er die Liste zu den Zeitungsartikeln, die Zeitungsartikel zu den übrigen Unterlagen, die Päivi Holmquist gebracht hatte und löschte das Licht. Er fuhr nach Hause.
    Während der Fahrt stellte er sich Erkki Koivikko vor, der aufstand, ins Bad ging und sich über dem Waschbecken übergab. Ein kräftiger, kontrolliert wirkender Mann. Auf der Bahre im Fernsehen …, hatte er gesagt.
    Er dachte an das leere Haus und an den lächelnden Mann, der es gekauft hatte.
    Verwitwet.
    An Tragödien gewöhnt.
    Er schwebte über die Straße, ab und zu fielen ihm für Sekunden die Augen zu. Es war Neuschnee gefallen. Als er auf den Waldweg abbog, drehten die Reifen durch, und er musste gegenlenken, um nicht in den Seitengraben abzurutschen. Er stellte den Wagen ab und ging die letzten hundert Meter zu Fuß. Wie so häufig zu dieser Zeit des Jahres. Er dachte an Sanna, die das gemocht hatte. Als sie zum ersten Mal festgestellt hatten, dass es in schneereichen Wintern häufig nicht möglich war, bis vor das Haus zu fahren, war er missmutig durch den Schnee gestapft, und Sanna hatte gelacht.
    In der Küche brannte Licht, hinter der Scheibe sah er die Silhouette einer nackten Frau. Er blieb eine Weile vor dem Fenster stehen und sah ihr dabei zu, wie sie den Auflauf kochte, den er ihr einige Tage zuvor versprochen hatte.
    Dann löste er sich, ging die paar Schritte zur Haustür und öffnete. Die Wärme drang in ihn, und Larissa rief: »Da bist du ja endlich. Essen ist fast fertig.«
    Er stand auf der Schwelle.
    »Du siehst blass aus«, sagte sie.
    Er nickte.
    »Mitternachtsmahlzeit«, sagte sie und hob die Form mit den brodelnden Nudeln aus dem Ofen.
    »Sieht lecker aus«, sagte er.
    »Schmeckt auch«, sagte Larissa. Oder wie auch immer.
    »Schön, dass du da bist«, sagte er.
    Sie nahm zwei Teller aus dem Schrank, Besteck aus der Schublade und fragte: »Warum?«
    Kimmo Joentaa sah sie an.
    »Warum ist es schön, dass ich da bin?«
    »Ich weiß nicht«, sagte Joentaa.
    Sie aßen schweigend.
    Danach zog sie ihn aus, setzte sich auf ihn und bewegte sich in rhytmischen, einstudiert wirkenden Bewegungen, bis er kam.
    Sie ging duschen.
    »Fünfundzwanzig«, sagte sie, als sie zurückkam.
    Kimmo sah sie an.
    »Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt. Aufgewachsen in geordneten Verhältnissen. Mein Vater hat mich ziemlich lange vergewaltigt, und meine Mutter hat es nicht gemerkt, deshalb bin ich mit sechzehn ausgezogen.«
    »Ja«, sagte Joentaa.
    »Das war eine Lüge«,

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