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Im Winter der Löwen

Titel: Im Winter der Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Costin Wagner
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sagte sie.
    Joentaa nickte.
    »Morgen erzähle ich dir eine neue, wenn du magst«, sagte sie.
56
    In der Nacht, in den Nachrichten, sieht sie den lächelnden Mann. Ein Foto. Er hat das Krankenhaus verlassen, niemand hat ihn gesehen, aber es heißt, er sei auf dem Weg der Besserung.
    Sie sitzt auf dem Bett im Hotel, das weich und glatt bezogen ist. Sie nimmt einen Apfel und einen Pfirsich aus einer weißen Schale und beginnt zu essen, während sie eine Frau mit einem Mikrofon vor dem dunklen Haus stehen sieht, in dem der lächelnde Mann wohnt. Was die Frau sagt, verhallt, und das, was passiert ist, ist ein Prickeln auf der Oberfläche ihrer Haut.
    Die leere Halle.
    Der fragende Blick.
    Der Himmel aus Glas.
    Rauna. Veikko. Ilmari.
    Sie spürt Raunas Haut an ihrer Wange und sieht Ilmari, der etwas zu sagen scheint. Wenige Meter entfernt von ihr, aber sie kann ihn nicht hören. Sie sucht seinen Blick, aber seine Augen sind geschlossen. Ein Bein fehlt. »Ist der Himmel eingestürzt?«, fragt Rauna, und sie denkt: Ein Bein fehlt. Ilmari hat den Arm um Veikko gelegt, dessen Körper in einem unnatürlichen Winkel zum Kopf flach am Boden liegt. Ein Bein fehlt, denkt sie, und Veikko schläft, und eben ist alles noch in Ordnung gewesen.
    Ein Riss im Himmel. Dann noch einer.
    Rauna tanzt. Ilmari rutscht aus. Veikko lacht.
    Wer soll es begreifen, wenn nicht sie?
    Sie liegt auf Schnee, und ihre Hand zittert, während sie sie nach Rauna ausstreckt. Sirenen und Blaulicht. Hektische Stimmen. Beruhigende Stimmen. Sie nickt. Nickt und nickt und nickt und lässt Raunas Hand nicht los.
    »Die beiden gehören sicher zusammen«, sagt eine der Stimmen.
    Ilmaris Körper wird angehoben und niedergesenkt.
    Veikkos Körper wird angehoben und niedergesenkt.
    Ihr Körper wird angehoben und getragen. Die Stimmen entfernen sich.
    Rauna schwebt neben ihr und fragt: »Ist der Himmel eingestürzt?«
    Das Rattern eines Motors. »Abflug«, sagt eine der Stimmen über ihr. »Zur Klinik in Turku. Landung auf der Rasenfläche vor dem Haupteingang. Ihr seid angekündigt.«
    »Alles klar«, sagt eine andere Stimme.
    Eine Tür wird geschlossen. Sie schließt die Augen.
    »Zurück ins Studio«, sagt die Frau mit dem Mikrofon.
    Eben noch, denkt sie.
    »Es wird alles wieder gut«, sagt eine Stimme.
    Eben noch.
    »Alles in Ordnung«, sagt die Stimme.
    Es ist erst ein Augenblick vergangen.
57
    Kai-Petteri Hämäläinen betrachtete die Zimmerdecke, auf der Licht und Schatten lagen. Irene lag neben ihm. Sie schien fest zu schlafen.
    Der Große und der sehr Große verbrachten die Nacht im Gästezimmer. Einer würde immer wach sein, während der andere es sich auf der Schlafcouch gemütlich machte, die normalen Menschen eine Schlafstätte bot, für diese beiden aber viel zu klein war. Der sehr Große hatte kurz gelacht, als er sich probeweise hingelegt hatte.
    Die Kobolde lagen in ihrer himmelblauen Welt im Obergeschoss und schliefen oder sie unterhielten sich noch flüsternd über die komischen Männer. Vermutlich kicherten sie leise, weil der sehr Große kurz nach ihrer Ankunft plötzlich aufgetaut war und mit den beiden Verstecken gespielt hatte. Im Schrank hatte er sich versteckt, unter der Schlafcouch und am Ende sogar in der Dusche. Wobei er seine Schuhe ausgezogen hatte, um die Fliesen nicht schmutzig zu machen. Die Kobolde waren begeistert gewesen und hatten gelacht und gelacht, und Kai-Petteri Hämäläinen hatte noch ein paar Grimassen geschnitten, bevor die beiden völlig übermüdet, aber glücklich und gar nicht mehr besorgt in rosa Nachthemden in ihre Betten gewankt waren.
    Was für ein merkwürdiger Abend. Merkwürdige Tage. Er tastete unter der Decke nach den schmerzenden Stellen an seinem Rücken, an seinem Bauch. Eine Narbe werde bleiben, hatte der junge Oberarzt gesagt und gelächelt.
    Irene stöhnte auf und wälzte sich auf die andere Seite. Er hielt den Atem an. Er wollte sie nicht wecken. Er wollte allein sein.
    Der Große oder der sehr Große, einer der beiden machte vermutlich gerade einen Rundgang durchs Haus. Hämäläinen stellte sich vor, wie er an der Glaswand stand und konzentriert, mit zusammengekniffenen Augen, ins Dunkel spähte.
    Er betrachtete das Licht und den Schatten und dachte an den Moment, in dem der Große ihn hereingebeten hatte. Willkommen. Ein Gast im eigenen Haus. Irenes Schweigen. Das verunsicherte Lächeln der Kinder. Ein gut aufgelegter Personenschützer dachte sich lustige Spiele aus, um seinen Töchtern die Angst zu

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