Im Winter der Löwen
Raafael Mertaranta, sitzt noch ein Stockwerk höher«, sagte Olli Latvala.
Joentaa nickte.
»Ich selbst muss leider gleich weiter, aber Tuulikki wird Ihnen alles zeigen. Sie kennt sich mit dem technischen Kram sowieso viel besser aus als ich.«
Der Händedruck der schmalen, jungen Frau, die neben Latvala stand, war kaum merklich und ihr Gesichtsausdruck nicht zu deuten.
»Hallo«, sagte sie.
»Hallo«, sagte Joentaa.
»Sie haben Glück, wir sind fündig geworden. Wir haben noch die Langversion der Show auftreiben können, also die ungekürzte Rohfassung, und einige der Bänder mit Schnittmaterial«, sagte Latvala.
»Aha …«, sagte Joentaa.
»Die Listen mit Namen und Anschriften muss ich noch besorgen. Am besten, Sie gehen erst mal das hier alles mit Tuulikki durch. Viel Erfolg.«
»Ja. Danke«, sagte Joentaa, aber Olli Latvala war schon außer Hörweite auf dem Flur.
»Rohfassung?«, fragte Tuulikki.
»Hm? Ah … gibt es ein Band, auf dem nur das Publikum zu sehen ist?«, fragte Joentaa.
Sie sah ihn an wie einen Außerirdischen. »Nur das Publikum?« Es klang angewidert.
»Ja, das wäre das, was ich suche.«
»Am besten, Sie schauen sich erst mal die Rohfassung an, und ich suche währenddessen nach dem Zeug von der Handkamera.«
»Äh … gut.«
»Das Publikum wird von der Handkamera eingefangen«, erläuterte sie.
Joentaa nickte. Sie drückte einige Knöpfe, und dann setzte Musik ein, und auf dem Bildschirm an der Glaswand auf Höhe des Himmels und der wenigen Winterwolken begrüßte Kai-Petteri Hämäläinen seine Gäste.
64
Das flache blaue Haus wirkte verlassen, in der Zufahrt lag meterhoch der Schnee, der Briefkasten quoll über. Ein Krankenwagen stand am Straßenrand, und eine junge Ärztin öffnete die Tür und ließ Sundström hinein.
Nuutti Vaasara saß mit Verbänden an den Unterarmen auf dem Sofa im Wohnzimmer und begrüßte ihn mit einer Stimme, die angefüllt war mit Erschöpfung, und Sundström dachte an Hämäläinen und fragte sich unwillkürlich, warum er sich seit einiger Zeit ständig mit Leuten herumschlug, die überlebten, statt tot zu sein.
»Wie geht es Ihnen, Herr Vaasara?«, fragte er.
»Gut, denke ich. Den Umständen entsprechend.« Er warf der Ärztin einen Blick zu, die lächelte und zustimmend nickte. Auf dem Boden neben Vaasara kniete ein Sanitäter, der gerade eine Tasche packte.
»Ja, wirklich«, sagte die Ärztin. »Alles bestens. Im richtigen Moment …« Sie wandte sich Vaasara zu und sagte: »Sie haben im richtigen Moment die richtige Entscheidung getroffen. Uns anzurufen.«
Vaasara nickte.
»Wäre es in Ordnung für Sie, wenn ich Ihnen gleich einige Fragen stelle?«, sagte Sundström.
»Sicher«, sagte Vaasara.
»Wir gehen«, sagte die Ärztin. »Denken Sie bitte daran, den Termin morgen wahrzunehmen, Herr Vaasara.«
Vaasara nickte. »Vielen Dank«, sagte er.
»Auf Wiedersehen. Und alles Gute«, sagte die Ärztin.
»Ja, alles Gute«, murmelte der Sanitäter.
Vaasara nickte.
Dann waren sie allein, und Sundström setzte sich und betrachtete den in sich zusammengesunkenen Nuutti Vaasara und fühlte eine vage Übelkeit bei dem Gedanken an das, was er alles über ihn wusste. Nuutti Vaasara, geboren am 25. Juni 1971, aufgewachsen mit einer etwas debilen Mutter und einem nach Lage der Dinge zum Jähzorn neigenden Vater in Hanko, Schulabbruch nach der elften, Auszug aus der elterlichen Wohnung, anschließend zwei Jahre verschwunden mit der Begründung, die Welt sehen zu wollen, wobei die wenigen verbliebenen Angehörigen und Bekannten sich auch zwanzig Jahre danach noch darüber wunderten, dass er diese Reise hatte unternehmen können, ohne Geld.
Im März 1990 hatte Vaasara auf einem Seminar der Universität, an dem er gar nicht hätte teilnehmen dürfen, Harri Mäkelä kennen gelernt. Seitdem hatten die beiden zusammengearbeitet und zusammengewohnt. Als Paar. So sehr Sundström darum bemüht war, weltoffen und liberal zu sein, es drehte sich ihm bei dem Gedanken doch jedes Mal von Neuem der Magen um. Männer mit Männern. Nackt und was auch immer treibend. Verdammte lutherisch-christliche Prägung.
Ob Vaasara ahnte, dass seine Homosexualität durchaus eine kleine, feine Notiz wert war in der Akte? Auch die Regenbogenmedien hatten diesem Aspekt die eine oder andere abenteuerliche Theorie gegönnt, aber vermutlich las Nuutti Vaasara keine Zeitungen, und er hatte ganz sicher keine Ahnung davon, dass er im breitflächigen, hoch effektiven Gestocher, das
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