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Im Winter der Löwen

Titel: Im Winter der Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Costin Wagner
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die Oberfläche zwingt.
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    »So einer wie Sie hat mir heute gerade noch gefehlt«, sagte Tuulikki.
    »Hm?«, sagte Joentaa und wendete den Blick vom Bildschirm ab.
    »Nichts«, sagte Tuulikki.
    »Könnten Sie bitte nochmal einige Minuten zurückspulen? Bis zu der Stelle, an der die Kamera ihre Fahrt durchs Publikum beginnt.«
    »Klar«, sagte Tuulikki.
    Joentaa fokussierte die fliegenden Bilder und sagte nach einer Weile: »Stopp, da fängt es an, glaube ich.«
    Tuulikki ließ das Band ablaufen.
    »Genau«, sagte Joentaa und beugte sich vor.
    Auf dem Bildschirm waren die Menschen zu sehen, die in Reihen nebeneinander saßen und konzentriert Patrik Laukkanen zuhörten, der nicht im Bild war, aber seine Stimme füllte den Raum. Joentaa dachte an Leena Jauhiainen, an das Baby, Kalle, und sah das Publikum, das merkwürdig einheitlich auf die Worte reagierte, die Patrik Laukkanen sprach. Kollektives Lachen, kollektive Ernsthaftigkeit. Patrik Laukkanen erzählte spannend und informativ. Dann wurde Mäkelä auf die Bühne gebeten. Die Handkamera verharrte auf dem Publikum, das klatschte.
    Joentaa beugte sich noch weiter vor, denn auf der nicht sichtbaren Bühne begann jetzt das Gespräch über die Puppen. Hämäläinen stellte im Plauderton Fragen, und Mäkelä sagte: »Brandleiche ist nicht gleich Brandleiche.«
    Ab und zu warf Patrik Laukkanen eine Bemerkung ein, und die Handkamera tastete die Menschen ab, die die Gesichter verzogen oder lachten oder gebannt zuhörten, die Stimmung wechselte in Sekundenabständen.
    »Die Beine sind angewinkelt«, sagte Mäkelä, »die Arme emporgereckt.«
    »Die Forensik kann damit durchaus arbeiten, es ist zum Beispiel möglich zu ermitteln, welche Körperbereiche zunächst Feuer fingen und wohin sich die Flammen ausbreiteten«, sagte Patrik Laukkanen.
    Hämäläinen warf eine Frage dazwischen, und Laukkanen sagte: »Die inneren Organe sind bei Brandopfern übrigens häufig sehr gut erhalten, das ist charakteristisch.«
    Hämäläinen leitete auf die nächste Puppe über. Im Publikum wendeten einige den Blick ab, andere starrten umso gebannter in Richtung der Bühne.
    »Wie süß«, sagte Mäkelä.
    Hämäläinen lachte.
    »Das charmante Tuch da über der Hüfte, meine ich, das war noch nicht da, als ich die Puppe gebaut habe«, sagte Mäkelä.
    Eine kurze Stille trat ein.
    Hämäläinen verlieh seiner Stimme einen ernsthaften Ton, vermutlich, um den kurzen Moment der Peinlichkeit zu überspielen.
    »Also, hier sehen wir das Opfer eines Flugzeugabsturzes«, sagte Hämäläinen.
    Wieder eine kurze Stille, und Mäkelä räusperte sich. Joentaa nahm es nur am Rande wahr, weil er sich auf die Gesichter im Publikum konzentrierte. Entsetzte, belustigte, angewiderte, interessierte. Die Einheitlichkeit war aufgehoben und blieb doch erhalten. Die Zuschauer wählten aus einer Palette möglicher Reaktionen. Aber keiner fiel aus der Rolle.
    Nur Erkki Koivikko, der auf dem Sofa in seinem Wohnzimmer gesessen hatte. Aufstehen, ins Bad gehen, sich übergeben.
    Joentaa kniff die Augen zusammen, und Mäkelä machte einen weiteren Spaß über das Tuch, das den Schambereich der Leiche bedeckte.
    Das Publikum lachte. Jetzt wieder einheitlich. Die Handkamera verharrte für einige Sekunden in einer Totalen, bevor sie in die Menge getragen wurde und von Neuem begann, die Gesichter abzutasten.
    »Stopp«, sagte Joentaa.
    Tuulikki beugte sich aufreizend langsam nach vorn und drückte einen Knopf.
    »Zurück«, sagte Joentaa.
    Tuulikki spulte zurück.
    »Stopp«, sagte Joentaa.
    Er betrachtete das eingefrorene Bild.
    Neun neben- und übereinander sitzende Menschen.
    Acht lachten. Vier lauthals und befreit. Zwei Teenager und zwei junge Männer. Eine ältere Frau lachte ein wenig gezwungen, ein elegant gekleideter Mann mittleren Alters lachte abwesend, als hänge er anderen Gedanken nach. Die Frau neben ihm lachte hysterisch, und ein weißhaariger Mann kicherte, mit Tränen in den Augen.
    Joentaa lehnte sich zurück. Er fokussierte die schmale, groß gewachsene Frau in der Mitte. Sie trug ein schlichtes, dunkles Kleid. Er saß Minuten lang reglos.
    »Wie geht’s denn jetzt weiter?«, fragte Tuulikki.
    Joentaa hörte die Stimme nur vage.
    »Hallo?«, sagte Tuulikki.
    »Entschuldigung«, sagte Joentaa.
    »Ich müsste dann bald runter ins Studio. Vor der Sendung ist noch ein Meeting zu den Kamerapositionen. Und wir … wir sitzen hier ja schon ewig.«
    »Ja«, sagte Joentaa.
    Ewig, dachte er. Das Wort hallte in

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