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Im Winter der Löwen

Titel: Im Winter der Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Costin Wagner
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er vor Ort ermittelt, bis der vage Anfangsverdacht vorsätzlicher Tötung ausgeräumt gewesen war. Ein Unglück. Eine Tragödie.
    Er dachte an den gut gelaunten Witwer, der ein leeres Haus bezogen hatte. An Tragödien gewöhnt.
    »Ich muss runter, Kai-Petteri ist angekommen«, sagte Tuula Palonen. »Bis später.«
    »Ja«, sagte Joentaa.
    »Wollen Sie einen bestimmten Ordner öffnen?«, fragte Tuulikki.
    »Warum ist ein toter Mann besser als ein totes Mädchen?«, fragte Joentaa.
    »Wie bitte?«, entgegnete Tuulikki.
    »Egal. ToteFürDummys, bitte.«
    »Was?«
    »Das ist der Ordner, den ich sehen möchte.«
    »Ah. Klar.«
    Der Name des Unterordners lautete: 170208/FIN/ TUR.
    17. Februar 2008. Eishalle. Finnland, Turku.
    Tuulikki drückte einen Knopf, und die Miniaturansicht der Bilder wurde angezeigt.
    »Wollen Sie die alle sehen?«
    »Ja, bitte«, sagte Joentaa, und Tuulikki drückte einen weiteren Knopf.
    Flimmernde Bilder.
    Eine makabre Dia-Show, dachte Joentaa. Sonst nichts.
    »Das ist ja erbauliches Zeug«, sagte Tuulikki. Ein hell beleuchteter Winterabend. Schwarz und gelb. Feuerwehrmänner in Rot. Sanitäter in Weiß. Ein Farbengemisch im Dunkel, das vor seinen Augen verschwamm.
    »Oh«, sagte Tuulikki.
    Auf den Tod zustürzen, ihn empfangen. An Tragödien gewöhnt. Möchten Sie bei ihr bleiben?, hatte der Arzt gefragt. Im Krankenhaus. In den Minuten nach Sannas Tod.
    »Haben Sie das gesehen?«, fragte Tuulikki.
    »Was?«, sagte er.
    »Ich will das Foto nochmal sehen. Moment.« Tuulikki drückte Knöpfe, und dann saßen sie wieder schweigend nebeneinander vor einem eingefrorenen Bild.
    »Schauen Sie mal, der Tote da im Zentrum, neben dem Feuerwehrmann, unter den Trümmern.«
    Sie deutete auf den Monitor, sie berührte den Toten ganz leicht mit dem Zeigefinger.
    »Der erinnert mich an eine der Puppen in der Sendung. Er liegt genau so. Der sieht doch identisch aus, oder? Und er hat nur ein Bein. Als wäre er die Vorlage gewesen.«
    Wie süß, dachte Joentaa.
    »Wenn ich nicht sehen würde, dass die Augen geschlossen und überall Wunden sind, würde ich sagen … wie aus dem Gesicht geschnitten«, sagte Tuulikki.
    »Ja«, sagte Joentaa.
    »Gespenstisch«, sagte Tuulikki.
    »Ich muss wissen, wer das ist«, sagte Joentaa.
    Tuulikki beugte sich vor und betastete wieder den Bildschirm. Ganz leicht, behutsam. Sie zeigte ihm, was er schon gesehen hatte.
    »Ich glaube, da, vor der größeren Leiche liegt … das … das Bündel da … das sieht fast aus wie …«
    »Ein Kind«, sagte Joentaa.
71
    Als Olli Latvala die Lobby des Hotels betrat, saß die Frau schon auf einem der Sofas. Die Hektik, die um sie herum herrschte, schien sie nicht wahrzunehmen, ihr Blick war ins Leere gerichtet.
    Olli Latvala verlangsamte seine Schritte. Er war ein wenig in Sorge. Er hoffte, dass sie dem Auftritt gewachsen sein würde. Er dachte an das, was ihr passiert war. Es war nicht vorstellbar. Er hatte keine Ahnung, was diese Frau empfand, und er fragte sich, ob es Kai-Petteri gelingen würde, einen Zugang zu ihr zu finden.
    Die Fragen, die er gemeinsam mit Tuula formuliert hatte, waren gut. Eine baute auf der anderen auf, und es blieb viel Raum auch für die Steuerung von Unvorhergesehenem. Was gerade heute wichtig war, da die Sendung live ausgestrahlt wurde. Die Steuerung von Unvorhergesehenem beherrschte keiner besser als Kai-Petteri, keiner konnte so gut das Eis brechen.
    Das Eis brechen, dachte er. Mann und Sohn zu verlieren, es mit anzusehen. Selbst schwer verletzt. Und bis heute wusste niemand genau, warum das Dach dieser Halle eingestürzt war.
    Er dachte, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, sie persönlich vom Hotel abzuholen und nicht den Fahrdienst zu beauftragen. Er hatte das Gefühl, dass sie besonderer Aufmerksamkeit bedurfte und dass sie diese Aufmerksamkeit auch … verdient hatte.
    Er beschleunigte seine Schritte und legte eine gewisse Lautstärke und Zuversicht in seine Stimme, als er schon aus einiger Entfernung sagte: »Hallo, da bin ich. Jetzt wird’s ernst.«
    Die Frau nahm den Blick vom Schneetreiben hinter den Scheiben und sah ihn an.
    »Fahren wir?«, fragte Olli Latvala.
    Die Frau stand auf.
    »Ist ziemlich viel Verkehr, und es schneit. Aber ich kenne einen Schleichweg zum Sender«, sagte Olli Latvala. Er lächelte sie an.
    Die Frau nickte und folgte ihm ins Freie. Sein Wagen stand direkt vor dem in Gold getauchten Eingangsportal im Halteverbot. Die Bediensteten des Hotels, die die Türen flankierten,

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