Im Wirbel der Gefuehle
ein wenig zu kurz kam, so war das ihre Sache. Allerdings konnte dies auch mit dem Alter Zusammenhängen, denn zumindest ein wenig von dem aufwühlenden Gefühl des Verliebtseins musste es auch bei ihren Eltern gegeben haben, als sie noch jung waren, denn sonst wären sie und ihr Bruder kaum auf der Welt.
Sie selbst wollte jedoch keine selbstlose und nur von bescheidener Leidenschaft geprägte Bindung eingehen, das wusste sie jetzt genau, ganz im Gegensatz zu dem, was sie vielleicht noch vor ein bis zwei Tagen gedacht hatte. So sinnierte sie vor sich hin, während sie sich wieder zurück ans Bett ihrer Mutter begab.
Der Gedanke ließ sie jedoch nicht los, und sie dachte daran, dass sie eben nicht so zerbrechlich und zartbesaitet war und dass sie nicht vor heißen, wilden Gefühlen zurückschreckte. Vielleicht war dies das französische Blut in ihren Adern, das südländische Temperament aus der Familie ihres Vaters. Andererseits war es nicht wahrscheinlicher, dass so etwas einfach mit der individuellen Veranlagung zusammenhing? Sie sollte wohl ein wenig damenhafter sein und derartige Aufwallungen besser unter Kontrolle haben, sodass ihr zukünftiger Ehemann nicht von ihren heißblütigen Ausbrüchen peinlich berührt würde. Aber ihr kam es auch nicht falsch vor, so zu empfinden.
Oder sollte sie sich doch dafür schämen?
Sie fragte sich, wie Christien wohl darüber dachte.
»Die Leute sagen die abscheulichsten Dinge«, fuhr ihre Mutter fort und wiegte ihren Kopf greinend hin und her. »Sie dürfen einfach nicht dauernd darüber reden, was hier geschehen ist, über dich. Ich ertrage das nicht.«
»Ich denke, dass es ganz normal ist, dass man Vermutungen darüber anstellt, wenn so etwas Schreckliches passiert ist. Außerdem bin ich mir sicher, dass sie es nicht böse meinen.« Reine setzte sich auf die Bettkante und nahm die Teetasse in die Hand, um sie an die Lippen ihrer Mutter zu führen und sie dazu zu ermutigen, noch mehr von dem beruhigenden Kräutertrank zu sich zu nehmen.
»Glaubst du wirklich? Ich nicht. Sie sollten doch wissen, dass du damit nichts zu tun hast, dass du nicht fähig wärst ... zu dem, was sie sich hinter vorgehaltener Hand erzählen. Der arme Theodore muss von einem Wegelagerer verwundet worden sein. Das Blut auf seinem Kopfkissen — jemand hat ihn wahrscheinlich ins Gesicht geschlagen und am Kopf verletzt. Dann ist er wohl hinausgelaufen, um Hilfe zu suchen, oder aber er wusste gar nicht mehr, was er tat und ist dann benommen in den Fluss gefallen.«
So oder ähnlich erzählen es die meisten, wie es in dieser Nacht abgelaufen sein musste. Den Hergang sich immer wieder aufzusagen, schien ihrer Mutter auch eine gewisse Art von Trost zu spenden. Nichts anderes schien einen Sinn zu ergeben. Da sie es war, die Marguerite aufgefunden hatte, beschmiert mit Theodores Blut, quälte sie diese Vorstellung noch lange. Nur wenn diese Bilder verblassten, was bisher nur allzu selten der Fall war, konnte sie wieder ein wenig Frieden für sich finden. Die anstehende Hochzeit und vielleicht auch der Anblick von Reine mit einem anderen Mann, ausgerechnet in dem Zimmer, wo Theodore tödlich verwundet wurde, ließen für sie all die Ereignisse wieder lebendig werden.
Die Hochzeit würde im Übrigen ein Mahnmal der Erinnerung für alle sein, für Freunde, Nachbarn, Bekannte und sogar für Fremde. Wie war es möglich, dass Theodore umgebracht wurde, ohne dass das Kind, das neben ihm schlief, erwachte? Hatte er tatsächlich das Haus aus eigener Kraft verlassen? Falls nicht, wer hatte dann die Leiche weggeschafft? Wie konnte es sein, dass niemand im Haus etwas bemerkt hatte? Und wie war es möglich, dass seine eigene Frau schlief, während man ihren Ehemann umbrachte?
Besonders die letzte Frage verfolgte Reine. Schon damals, kurz nach dem unglücklichen Vorfall wusste sie nicht, was sie darauf sagen sollte, aber auch jetzt blieb sie noch immer eine Antwort schuldig. Sie hätte sagen können, dass sie so müde war und dass sie sich nicht im Haupthaus aufgehalten hatte, sondern in der Außenküche und außerdem natürlich nicht im Traum daran gedacht hätte, dass so etwas Schreckliches passieren würde. Sie hätte auch antworten können, dass sie nicht mit der Rückkehr von Theodore gerechnet hatte, nachdem sie mit ihrem Kind hierher geflüchtet war.
Aber all dies machte keinen Unterschied, denn keiner schien sie zu verstehen. Sie konnte das aber auch niemandem übel nehmen, denn sie hatte es ja selbst nie
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