Im Wirbel der Gefuehle
irgendetwas zu finden, was sie bei sich behalten konnte. In den endlosen Stunden des Wachens und der Sorge um ihre kranke Tochter hatte Reine jegliches Gefühl der Zeit verloren.
Als das Fieber dann endlich sank und Marguerite zumindest schlafen konnte, schlich sich Reine aus dem Zimmer der kleinen Patientin und legte sich in ihr Bett, bemerkte dann aber recht schnell, dass sie den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte. Nach einem kleinen Imbiss in der Außenküche ließ sie sich am Küchentisch nieder, legte ihren schwer gewordenen Kopf ab und atmete erleichtert auf, im Vertrauen darauf, dass das Schlimmste überstanden wäre. Gleich würde sie zurück ins Haupthaus gehen, die Treppen hoch und sich in ihr Bett legen, dachte sie, leicht dahindämmernd.
Bei Sonnenaufgang weckte sie ein durchdringender Schrei. Sie sprang erschrocken auf und lief mit zugeschnürter Kehle, so schnell es ging, zurück ins Haus. Dort fand sie ihre Mutter mit Marguerite im Arm, beide blutverschmiert. Noch jetzt, all die Zeit danach, schauderte es Reine, bei dem bloßen Gedanken an dieses Bild.
Es hatte einige Zeit gedauert, bis man sich ein einigermaßen zusammenhängendes Bild von den Ereignissen des fraglichen Abends machen konnte. Theodore war von New Orleans auf sein Anwesen Bonne Esperance zurückgekehrt und musste dort erfahren, dass Reine und Marguerite das Haus verlassen hatten. Daraufhin ritt er sofort wieder los. Man weiß auch, dass er auf River’s Edge ankam, denn ein verschlafener Stallbursche erinnerte sich gut daran, dass er das verschwitzte Pferd in Obhut genommen hatte. Kaum abgestiegen, ging Theodore ins Haus und begab sich wohl auf direktem Weg ins Schlafzimmer. Er muss dort auch im Bett eingeschlafen sein, denn Reine entdeckte sowohl seine überall herumliegenden Kleider als auch eine eindeutige Vertiefung in der Matratze, die seine Anwesenheit verriet. Aber niemand hatte Theodore je wieder gesehen. Zumindest hatte ihn nie jemand wieder lebendig gesehen.
»Du weißt, dass er tot ist, Maman. Er wurde im Fluss gefunden, erinnerst du dich nicht?«
Reine sprach mit ihrer Mutter über ihre Schulter Hinweg, während sie die Fensterläden zumachte, damit das Licht gedämpfter würde und die zunehmende Hitze des Tages draußen blieb. Bevor sie die Läden endgültig verriegelte, hielt sie kurz inne und spähte durch den verbleibenden Spalt, um auf die silbernen Fluten des sich dahinwälzenden Mississippis zu blicken. Der Ankerplatz für die River’s Edge Plantage befand sich in Sichtweite, genau gegenüber dem Haupthaus. Nicht unweit dieser Stelle, ein wenig flussabwärts, hatte man Theodore damals gefunden. Reine schloss für einen
Moment gequält die Augen, öffnete sie dann wieder und fuhr fort. »Paul war damals dabei, wie sie ihn aus dem Fluss zogen.«
»Ja, ja, mein armer Paul. Es macht ihm immer noch zu schaffen, das weiß ich genau.«
Reine konnte dem nur zustimmen. Dieses Erlebnis verstörte alle auf die eine oder andere Weise.
»Theodore mag nicht der beste Ehemann gewesen sein, nicht so geduldig wie Maurice, aber er war nicht wirklich schlimm, oder?«
»Was meinst du mit schlimm?
»Er hat dich nie geschlagen, nicht wahr?«
Reine schüttelte den Kopf. Theodore war gedankenverloren, rücksichtslos, leicht reizbar und fand immer gleich einen Schuldigen. Er war so auf sich selbst fixiert, dass er einfach davon ausging, dass sich das ganze Leben um ihn herum nach seinen Wünschen und Vorstellungen regelte, und ärgerte sich maßlos, falls dem einmal nicht so war. Das alles machte ihn aber noch nicht zu einem wirklich schlechten Ehemann.
Die Bemerkung ihrer Mutter legte jedoch nahe, dass sie wusste, dass ihrer Tochter etwas in ihrem Eheleben gefehlt hatte. Reine wusste nicht genau, wie sie das erahnte, denn über so etwas hatten sie nie geredet. Ihre Mutter hätte sich bei so einem Thema auch zu sehr aufgeregt. Madame Cassard war der Ansicht, dass dies zum privaten Bereich eines jeden gehörte, in dem man sich nicht einmischte, auch nicht bei der eigenen Tochter.
Es war für Reine aber auch ein gutes Gefühl, zu wissen, dass die Ehe ihrer Eltern mit Liebe und Verständnis gesegnet war und dass ihre Mutter glücklich war, zumindest soweit dies ihr unstetes Temperament zuließ. Ihr Vater musste sie wirklich lieben, denn er tat alles, damit seine Frau ein ruhiges und zufriedenes Leben führte, nach Möglichkeit ohne eine Aufregung, die ihre labile Gesundheit hätte gefährden können. Wenn dabei die Leidenschaft
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