Im Zauber der Gefuehle
dabei die spröde Laubschicht zum Rascheln brachte. Er tat es ihr gleich und landete auf derselben Stelle wie sie kurz zuvor. Seltsamerweise machte er bei weitem nicht so viel Lärm wie sie, obwohl er fast das Doppelte ihres Körpergewichts wog.
Lottie wählte ihre Worte mit großer Sorgfalt aus. Sie sprach nur sehr ungern über ihre Vergangenheit — nicht nur, weil es gefährlich war, sondern auch, weil das Thema sie traurig stimmte. »Meine Familie ist arm, sodass ich keine andere Wahl hatte.«
»Ihr hättet heiraten können.«
»Ich habe noch nie jemanden getroffen, den ich hätte heiraten wollen.«
»Nicht einmal Lord Westcliff?«
»Lord Westcliff?«, wiederholte sie überrascht. »Warum sollte ich es auf ihn abgesehen haben?«
»Er ist wohlhabend und besitzt einen Titel, außerdem lebt Ihr nun schon seit zwei Jahren unter seinem Dach«, lautete Sidneys hämische Antwort. »Warum also nicht?«
Lottie runzelte nachdenklich die Stirn. Der Graf war nicht abstoßend — ganz im Gegenteil: Westcliff war ein gut aussehender Mann, der seine Verantwortung ohne zu klagen trug. Abgesehen von seinen strengen Moralvorstellungen besaß er einen trockenen Humor und sorgsam verstecktes Mitgefühl. Außerdem hatte Lottie heimlich beobachtet, dass er seinen Charme geschickt wie eine Waffe einsetzte. Viele Frauen fühlten sich magisch von ihm angezogen, Lottie war jedoch keine davon. Sie spürte, dass sie nicht den Schlüssel besaß, um seine angeborene Zurückhaltung aufzuschließen ... genauso wenig war sie je in Versuchung geraten, ihm den Grund für ihr ständiges Alleinsein anzuvertrauen.
»Selbstverständlich hätte ein Gentleman in seiner Position niemals ein derartigem Interesse an einer Gesellschafterin«, beantwortete sie Lord Sydneys Frage. »Doch selbst wenn wir derselben gesellschaftlichen Schicht angehörten, bin ich mir sicher, dass sich der Graf niemals für mich interessieren würde, oder ich mich für ihn. Unsere Beziehung — wenn man es denn so nennen will — besitzt nicht diese besondere ...« Sie hielt inne, um nach dem passenden Wort zu suchen. »Chemie.«
Das Wort hing sanft in der Luft und wurde erst vom Klang von Sydneys Stimme zerstreut.
»Die richtige Chemie ist doch wohl nicht so wichtig wie die Sicherheit, die er Euch bieten könnte.«
Sicherheit. Wie sehr sie sich danach sehnte, und wie vergeblich die Aussicht darauf war. Lottie hielt inne und starrte in sein dunkles Gesicht. »Wie kommt Ihr darauf, dass es mir an Sicherheit mangeln könnte?«
»Ihr seid allein. Eine Frau braucht jemanden, der sie beschützt.«
»Ach, ich benötige keinerlei Schutz. Hier auf Stony Cross Park wird mir ein sehr angenehmes Leben zuteil.
Lady Westcliff ist eine sehr ruhige, anspruchslose Dame, und es fehlt mir an nichts.«
»Lady Westcliff wird nicht ewig leben«, bemerkte Sidney und obgleich seine Worte unverblümt waren, wirkte seine Miene seltsam verständnisvoll. »Was werdet Ihr tun, wenn sie nicht mehr unter uns weilt?«
Diese Frage traf Lottie unerwartet. Niemand sonst wollte derartige Dinge von ihr wissen. Verwirrt ließ sie einige Zeit verstreichen, bevor sie antwortete. »Ich weiß es nicht«, gestand sie ehrlich. »Vermutlich ziehe ich es vor, mir keine Gedanken über die Zukunft zu machen.«
Sydneys Blick war fest auf sie gerichtet, wobei seine Augen einen fast unnatürlichen Blauton annahmen. »Ich auch.«
Lottie wusste nicht recht, was sie von ihrem Begleiter halten sollte. Anfangs war es ihr nicht schwer gefallen, in ihm - mit seiner wunderschön geschneiderten Kleidung und den perfekten Gesichtszügen - den verwöhnten Adelssohn zu sehen, doch auf den zweiten Blick entdeckte man andere Attribute. Die tiefen Schatten unter seinen Augen ließen auf schlaflose Nächte schließen. Der harte Zug um seinen Mund verlieh ihm etwas Zynisches, das an einem so jungen Mann ungewohnt war. Außerdem konnte sie in Augenblicken wie diesem, in denen er nicht auf der Hut war, an seinen Augen ablesen, dass er wusste, was Kummer und Schmerz waren.
Seine Miene war jedoch so unbeständig wie Quecksilber und im nächsten Moment war er wieder ganz der hochmütige Strolch, dem der Spott aus den Augen sah. »Die Zukunft ist zu langweilig, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen«, sagte er leichthin. »Sollen wir weitergehen, Miss Miller?«
Lottie führte ihn aus dem Wald heraus, wobei sein abrupter Stimmungswechsel sie aus der Fassung brachte. »Solch einen Ausblick hat man in London nicht, wie?«, fragte
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