Im Zauber der Gefuehle
sie nach einer Weile.
»Nein«, stimmte Lord Sydney ihr zu, obgleich die Schönheit der Landschaft ihn relativ kalt ließ.
»Ich sehe schon, dass Ihr das Stadtleben vorzieht«, meinte Lottie mit einem Lächeln. »Miethäuser, Kopfsteinpflaster, Fabriken, Schornsteinrauch und Lärm. Wie kann man das nur dem hier vorziehen?«
Die Sonnenstrahlen ließen einzelne Strähnen seines dunkelbraunen Haares golden leuchten. »Behaltet Ihr Eure Käfer und Sümpfe, Miss Miller. Ich würde London jederzeit den Vorzug geben.«
»Ich zeige Euch etwas, das London ganz bestimmt nicht hat.« Triumphierend führte Lottie ihn über den Feldweg, bis sie zu einem tiefen Becken im Felsgestein kamen, aus dem Wasser überquoll und an den Seiten hinabrann.
»Was ist das?«, wollte Lord Sidney wissen und beäugte skeptisch das Loch im Fels, aus dem ständig Wasser in das Becken floss.
»Ein Wunschbrunnen. Jeder im Dorf kommt hierher.« Geschäftig durchsuchte Lottie die Taschen ihres Kleides. »Ach, verflucht, ich habe keine Haarnadel.«
»Wozu braucht Ihr Haarnadeln?«
»Um sie in den Brunnen zu werfen.« Sie bedachte ihn mit einem nachsichtigen Lächeln. »Jedes Kind weiß doch, dass man sich ohne Haarnadel nichts wünschen kann.«
»Was wollt Ihr Euch denn wünschen?«, fragte er mit rauer Stimme.
»Ach, es ist nicht für mich, ich habe mir hier schon Dutzende Sachen gewünscht. Es sollte für Euch sein.«
Lottie stellte die Suche nach einer Haarnadel ein und blickte zu ihm auf.
Lord Sydney sah sie mit einem seltsamen Ausdruck an ... verblüfft, beinahe entsetzt ... als hätte ihm jemand einen Tritt in die Magengrube versetzt. Er verharrte unbeweglich ohne zu blinzeln und starrte sie an, als fiele es ihm schwer, ihre Worte zu begreifen. Das Schweigen zwischen ihnen wurde immer schwerer, und Lottie wartete fasziniert und hilflos zugleich darauf, dass er endlich etwas sagte. Gewaltsam löste er den Blick von ihr und betrachtete das angrenzende Heideland mit einem ungewohnten Interesse, als würde er versuchen, etwas sehr Schwieriges, das keinen Sinn ergab, gedanklich zu verarbeiten.
»Wünscht Euch trotzdem etwas«, meinte Lottie einer spontanen Eingebung folgend. »Ich werde das nächste Mal, wenn ich hier bin, eine Nadel in den Brunnen werfen.«
Lord Sydney schüttelte den Kopf. Als er sprach, klang seine Stimme eigenartig heiser. »Ich wüsste nicht, was ich mir wünschen sollte.«
Schweigend gingen sie weiter und folgten dem Weg bis zu einer kleinen Brücke, die über einen Bach führte. »Hier entlang«, sagte Lottie auf der anderen Seite und raffte ihren Rock bis zum Knie, während sie eine Wiese mit Gras und Heidekraut überquerten, bis ihnen eine Hecke den Weg versperrte. »Der Pfad jenseits der Hecke führt durch den Wald zurück nach Stony Cross Park.« Sie deutete auf einen hohen Torbogen, der so schmal war, dass man ihn nur hintereinander passieren konnte. Als sie Lord Sydney einen raschen Blick zuwarf, stellte sie zu ihrer Erleichterung fest, dass er seine Fassung wiedergefunden hatte. »Der einzige Weg auf die andere Seite führt durch das Kusstor.«
»Warum heißt es so?«
»Ich weiß es nicht.« Nachdenklich betrachtete Lottie das Tor. »Höchstwahrscheinlich, weil es zwangsläufig auf einen Kuss hinauslaufen muss, sobald zwei Leute gleichzeitig versuchen hindurchzugehen.«
»Eine interessante Theorie.« Sydney hielt unter dem Torbogen inne und lehnte sich an die eine Seite der Hecke. Er schenkte Lottie ein herausforderndes Lächeln, obgleich er wissen musste, dass sie das Tor auf diese Weise unmöglich passieren konnte, ohne ihn dabei zu berühren.
Lottie hob eine Braue. »Kann es sein, dass Ihr mich gerade dazu auffordert, meine Theorie unter Beweis zu stellen?«
Mit einer lässigen Bewegung zuckte Lord Sydney die Schultern, wobei er sie mit seinem spitzbübischen Charme musterte, der unwiderstehlich war. »Ich habe nichts dagegen, wenn Euch der Sinn danach stehen sollte.«
Es war offensichtlich, dass er nicht davon ausging, sie könnte seine Herausforderung annehmen. Lottie wusste, dass sie nur die Augen verdrehen und ihn zurechtweisen müsste, damit er zur Seite träte. Doch als sie überlegte, was sie ihm antworten sollte, wurde sie sich schmerzhaft einer inneren Leere bewusst, die daraus resultierte, dass sie seit zwei Jahren von niemandem mehr berührt worden war. Keine überschwänglichen Umarmungen ihrer Freundinnen auf Maidstone ... nicht die sanfte Hand einer Mutter, keine süßen, kindlichen
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