Im Zauber der Gefuehle
Küsse ihrer jüngeren Geschwister. Sie fragte sich, was dieser Mann an sich hatte, dass er sie so akut an ihren Liebesentzug denken ließ. Am liebsten würde sie ihm ihre Geheimnisse anvertrauen — was natürlich undenkbar war. Sie konnte niemandem vertrauen, denn ihr Leben stand auf dem Spiel.
Da bemerkte sie, dass das Lächeln aus Lord Sydneys
Gesicht verschwunden war. Ohne sich dessen bewusst zu sein, hatte sie sich ihm genähert und stand nun wenige Zentimeter von ihm entfernt. Ihr Blick streifte seinen Mund, der breit und männlich und voll war. Ihr Puls fing an zu rasen, und die Versuchung übte eine Macht aus, die größer war als alles, was sie bisher erlebt hatte ... größer als Angst, stärker als Hunger.
»Haltet still«, hörte sie sich selbst sagen. Behutsam legte sie ihm eine Hand auf die Brust.
In dem Augenblick, als Lottie Lord Sydney berührte, hob sich seine Brust ruckartig unter ihrer Handfläche, und er sog scharf die Luft ein.
Das heftige Schlagen seines Herzens gegen ihre Finger erfüllte Lottie mit einer eigenartigen Zärtlichkeit. Er schien erstarrt zu sein, als befürchtete er, dass die kleinste Bewegung seinerseits sie vertreiben könnte. Mit den Fingerspitzen berührte sie sanft seine Unterlippe und konnte seinen heißen Atem auf der Haut spüren. In diesem Moment erhob sich ein Schmetterling von seinem Rastplatz auf dem Torbogen und bildete einen zitternden Farbfleck am Horizont.
»Wie heißt Ihr?«, flüsterte Lottie. »Mit Vornamen.«
Es dauerte lange, bis er ihr eine Antwort gab, wobei er die dichten Wimpern senkte, um seine Gedanken zu verbergen. »John.«
Er war so groß, dass sich Lottie auf die Zehenspitzen stellen musste, um an seinen Mund zu gelangen, und selbst dann schaffte sie es nicht ganz. Er legte die Hände um ihre Taille und zog sie sanft zu sich. Auf einmal war da ein seltsam verlorener Blick in seinen Augen, wie der eines Ertrinkenden. Lotties Hand fasste zart an die völlig steif gewordene Muskulatur seines Nackens.
Er ließ es geschehen, dass sie seinen Kopf zu sich herabzog, immer weiter, bis ihr Atem sich vermischte und sich ihre Lippen zu einem süßen, samtweichen Kuss trafen. Erst lag sein Mund warm und still an ihrem, dann begannen seine Lippen, zart an den ihren entlangzustreichen. Verwirrt taumelte Lottie, und er legte ihr den Arm auf den Rücken, um sie in sicherem Griff zu halten. Instinktiv reckte sie sich auf den Zehenspitzen nach oben, um den sanften Druck seiner Lippen zu erwidern, doch er war sehr darauf bedacht, sein Begehren nicht außer Kontrolle geraten zu lassen, und weigerte sich, mehr von ihr zu nehmen.
Allmählich entzog sie sich seinem Griff und ließ sich zurück auf die Fersen sinken. Sie wagte es, seine Wange zu berühren, und genoss das Gefühl seiner warmen Haut an ihrer Handfläche. »Ich habe den Wegezoll gezahlt«, flüsterte sie. »Darf ich das Tor nun passieren?«
Er nickte ernst und gab den Weg frei.
Als Lottie durch das Tor ging und die Hecke hinter sich ließ, stellte sie zu ihrer Überraschung fest, dass ihre Knie zitterten. Ihr Begleiter folgte ihr schweigend, während sie den Pfad entlangschritt, der nach Stony Cross Park führte. Kurz bevor sie das große Anwesen erreichten, hielten sie im Schutz einer Eiche inne.
»Ich muss Euch hier verlassen«, erklärte Lottie. »Es würde sich nicht ziemen, wenn man uns zusammen sähe.«
»Selbstverständlich.«
Ein wehmütiger Schmerz machte sich in ihrer Brust breit, als sie zu ihm emporblickte. »Wann werdet Ihr Stony Cross Park verlassen, Mylord?«
»Bald.«
»Nicht vor morgen Abend, hoffe ich. Das Dorf hat jedes Jahr eine ganz wunderbare Maifeier, an der alle aus dem Herrenhaus teilnehmen.«
»Geht Ihr dorthin?«
Energisch schüttelte Lottie den Kopf. »Nein, ich war schon einmal dort. Wahrscheinlich werde ich einfach auf meinem Zimmer bleiben und ein Buch lesen. Doch für einen Neuankömmling sind die Festlichkeiten auf jeden Fall sehenswert.«
»Ich werde es mir überlegen«, murmelte er. »Vielen Dank für den Spaziergang, Miss Miller.« Und mit einer höflichen Verbeugung ließ er sie stehen.
Nach dem Frühstück schob Charlotte Lady Westcliff in deren Rollstuhl über die Kieswege der Gärten des Herrenhauses. Nick beobachtete sie von einem offenen Fenster im ersten Stock und konnte hören, wie die fürstliche alte Lady der jungen Frau Vorträge über Gartenbau hielt.
Charlotte hörte ihr allem Anschein nach respektvoll zu, während sie den Rollstuhl den
Weitere Kostenlose Bücher