Im Zauber der Gefuehle
Weg entlangschob. Obwohl das Gefährt sperrig war, lenkte sie es mit großem Geschick. Ihre schlanken Arme waren überraschend kräftig, und sie zeigte keine Ermüdungserscheinungen, als sie den Rollstuhl eine Hecke entlangmanövrierte.
Nick löste seine Augen keine Sekunde von ihr, während er versuchte, Ordnung in das chaotische Wirrwarr seiner Gedanken zu bringen. Der Appetit, den er morgens normalerweise verspürte, war mit ihrem Spaziergang verflogen. Er hatte nicht gefrühstückt ... hatte im Grunde gar nichts getan, außer in einer Art Trance über das Anwesen zu wandern, die ihn schockierte. Er kannte sich als gefühllosen, abgestumpften Mann ohne Ehre und ohne die Fähigkeit, seine primitiven Instinkte zu unterdrücken. Da er den größten Teil seines Lebens damit beschäftigt gewesen war, um das nackte Überleben zu kämpfen, war es ihm nie möglich gewesen, nach Höherem zu streben. Er wusste nur wenig über Literatur oder Geschichte, und seine mathematischen Kenntnisse beschränkten sich auf Geldangelegenheiten und Wettchancen. Philosophie bestand für ihn lediglich aus einer Hand voll zynischer Lehren, die das Weltbild einiger mürrischer, alter Männer widerspiegelten. Mittlerweile gab es nichts mehr, das ihn überraschen oder beängstigen konnte. Er fürchtete sich weder vor Verlust noch vor Schmerzen oder gar dem Tod.
Doch mit ein paar Worten und einem verlegenen, unschuldigen Kuss hatte Charlotte Howard ihn überwältigt.
Es war offensichtlich, dass Charlotte nicht mehr das Mädchen war, das ihre Eltern, Freundinnen oder selbst Radnor gekannt hatten. Sie hatte sich daran gewöhnt, für den Augenblick zu leben, ohne einen Gedanken an die Zukunft zu verschwenden. Das Wissen um die Tatsache, dass sie gejagt wurde und ihre Tage in Freiheit gezählt waren, hätte sie bitter und desillusioniert machen können, doch noch immer warf sie Haarnadeln in Wunschbrunnen. Der Hoffnungsschimmer, der sich darin offenbarte, hatte ihn tief in der Seele berührt, obwohl er der Meinung gewesen war, längst keine Seele mehr zu besitzen.
Er konnte sie nicht an Radnor aushändigen.
Er musste sie selbst besitzen.
Diese Erkenntnis traf ihn wie ein Fausthieb, und seine Hand schloss sich mit aller Kraft um den hölzernen Fensterrahmen, da er befürchten musste, jeden Moment das Gleichgewicht zu verlieren.
»Sydney.«
Lord Westcliffs Stimme überraschte ihn, und es passte ihm gar nicht, so in Charlottes Anblick vertieft gewesen zu sein, dass er seine gewohnte Wachsamkeit hatte fahren lassen. Mit ausdrucksloser Miene wandte er sich dem Grafen zu.
Westcliffs Gesichtszüge wirkten noch markanter und strenger als sonst, und in seinen dunklen Augen war ein kaltes Glitzern. »Wie ich sehe, ist Euch die Gesellschafterin meiner Mutter aufgefallen«, stellte er mit leiser Stimme fest. »Ein sehr hübsches Mädchen, und ausgesprochen verletzlich. Ich musste schon dem einen oder anderen Gast ins Gewissen reden, der ein allzu großes Interesse an Miss Miller an den Tag legte, da ich es niemals zulassen würde, dass jemand meinen Dienstboten zu nahe tritt.«
Nick erwiderte Westcliffs unnachgiebigen Blick. Es war ihm nicht entgangen, dass er soeben verwarnt worden war, was Charlotte betraf. »Bin ich Euch ins Gehege gekommen, Mylord?«
Auf die unverschämte Frage hin verengte der Graf die Augen zu Schlitzen. »An meine Gastfreundschaft sind nur sehr wenige Bedingungen geknüpft, Sydney. Eine davon ist, dass Ihr die Finger von Miss Miller lasst, darüber verhandele ich nicht.«
»Ich verstehe.« Misstrauen wuchs in ihm. Hatte Charlotte mit ihrem Arbeitgeber gesprochen? Nick hätte nicht gedacht, dass sie irgendjemandem vertrauen würde, nicht einmal einem so ehrenwerten Mann wie Westcliff. Doch wenn sie dieses Risiko eingegangen war, würde der Graf ohne Zweifel einigen Widerstand leisten, sollte er erfahren, dass man sie gegen ihren Willen von Stony Cross Park fortschaffen wollte. Es war aber auch möglich, dass Charlotte sich seinen Schutz gesichert hatte, indem sie mit ihm ins Bett gestiegen war.
Die Vorstellung, wie Charlotte nackt in den Armen eines anderen lag, ließ einen ätzenden Geschmack in Nicks Mund aufsteigen und auf einmal packte ihn Blutgier. Das muss Eifersucht sein, dachte er ungläubig. Himmelherrgott!
»Ich werde Miss Miller die Wahl überlassen«, meinte er entschieden. »Wenn es sie nach meiner Gegenwart — oder Abwesenheit - verlangen sollte, werde ich mich ihrem Wunsch beugen, nicht dem Ihren.«
An dem
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