Im Zauber der Gefuehle
gewahrte, das in die Eisenstäbe eingearbeitet war.
Gentry schenkte ihr ein boshaftes Lächeln. »Die Cannons gehören nicht dem Hochadel an, auch wenn man ihnen diesen Umstand nicht ansieht.«
»Ist Sir Ross ein sehr traditionsbewusster Mensch?«
»In mancherlei Hinsicht ja, aber in Sachen Politik ist er fortschrittlich. Er kämpft für die Rechte der Frauen und Kinder und unterstützt jedes reformerische Bestreben, das man sich nur vorstellen kann.« Mit einem leisen Seufzen geleitete Gentry sie zu den Eingangsstufen. »Du wirst ihn mögen. Das tun alle Frauen.«
Als sie die steinerne Treppe emporstiegen, überraschte Gentry Lottie, indem er ihr den Arm um die Taille legte. »Nimm meine Hand, diese Stufe ist uneben.« Vorsichtig
Führte er sie über die ungleichmäßige Stelle und ließ sie erst los, als er sicher sein konnte, dass sie nicht das Gleichgewicht verlieren würde.
Sie betraten eine weiträumige Eingangshalle, doch Lottie hatte kaum Zeit, das geschmackvolle Innere des Hauses zu begutachten, da sogleich eine wunderhübsche Frau auf sie zukam.
Das blonde Haar der Frau war etliche Nuancen dunkler als Lotties und hatte die Farbe von Waldhonig. Ihre Nase war weniger kühn und das Kinn zwar klar geschnitten, doch nicht so entschieden wie bei ihrem Bruder. Im Vergleich zu seiner sonnengebräunten Haut wirkte ihr Teint vornehm blass. Ihre Augen waren jedoch von demselben außergewöhnlichen Blau wie die seinen: satt, dunkel und unendlich tief. Lady Cannon sah so jugendlich aus, dass man niemals darauf gekommen wäre, sie könnte vier Jahre älter als ihr Bruder sein.
»Nick!«, rief sie mit einem überschwänglichen Lachen, während sie auf ihn zuschritt und sich auf die Zehenspitzen reckte, um seinen Kuss entgegenzunehmen. Er umarmte sie und legte das Kinn auf ihren goldenen Haarschopf, bevor er zurücktrat, um sie eingehend zu mustern. In diesem kurzen Augenblick offenbarten sich Lottie die außerordentlich tiefen Gefühle, die die beiden einander entgegenbrachten, obwohl etliche Jahre der Trennung, des Verlustes und der Täuschung zwischen ihnen lagen.
»Du erwartest noch ein Kind«, sagte Gentry bald darauf, und seine ältere Schwester musste lachen.
»Woher weißt du das? Sir Grant muss es dir erzählt haben!«
»Nein, aber du hast um die Taille herum zugenommen — oder deine Korsettbänder haben sich gelöst.«
Lachend entzog sich Lady Cannon seinem Griff und schlug ihm gegen die Brust. »Du taktloses Scheusal! Ja, ich habe um die Taille herum zugenommen und werde das bis Januar auch weiterhin tun, bis du eine neue Nichte oder einen neuen Neffen auf deinem Knie sitzen hast.«
»Wie wunderbar«, entgegnete er sichtlich bewegt.
Als Lady Cannon sich Lottie zuwandte, wurde ihre Miene noch freundlicher. »Herzlich willkommen, Charlotte. Nick hat mir gestern eine Nachricht zukommen lassen, und seitdem brenne ich darauf, Euch kennen zu lernen.« Sie duftete nach Tee und Rosen, ein Duft, der beruhigend und aufregend zugleich war. Nachdem sie Lottie den schmalen Arm um die Schulter gelegt hatte, richtete sie die nächsten Worte wieder an Gentry. »Welch reizende Schwester du mir gebracht hast. Behandle sie nur gut, Nick, oder ich lade sie ein, hier bei uns zu wohnen. Sie scheint mir viel zu wohlerzogen zu sein, um sich mit einem Halunken wie dir abzugeben.«
»Bisher gibt es noch keine Klagen«, erwiderte Lottie mit einem Lächeln. »Aber natürlich sind wir auch erst seit einer Stunde miteinander verheiratet.«
Lady Cannon warf ihrem Bruder einen strafenden Blick zu. »Dieses arme Mädchen ausgerechnet im Standesamt zu heiraten! Ich wünschte nur, du hättest gewartet und mich die Hochzeit vorbereiten lassen. Aber sie hat ja noch nicht einmal einen Ring von dir bekommen! Also ehrlich, Nick ...«
»Warten wollte ich nicht«, unterbrach er sie brüsk.
Bevor Lady Cannon etwas erwidern konnte, kam ein kleines Kind auf unsicheren Beinen in die Eingangshalle gestakst, gefolgt von einem bekittelten Kindermädchen. Das dunkelhaarige Mädchen mit den blauen Augen und etlichen Grübchen in den Wangen konnte nicht viel älter als zwei Jahre sein. »Onka Nick!«, kreischte die Kleine und stürzte auf ihn zu, wobei ihre zerzausten Locken wild hinter ihr herwehten.
Gentry fing sie auf und warf sie in die Luft, wobei er über ihre Freudenschreie lachte. Als er sie fest umarmte, trat die tiefe Zuneigung, die er für das Kind hegte, mehr als deutlich zutage und strafte seine frühere Rede vom »ganz netten
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