Im Zauber der Gefuehle
gelegen. Kein schlechter Ort um unterzutauchen, dachte Nick sarkastisch. Sollte sein Verdacht sich bestätigen, hatte Charlotte eine Anstellung im Haushalt des Grafen von Westcliff gefunden, und zwar als Gesellschafterin der Mutter.
Im Laufe seiner Jagd nach Charlotte hatte Nick so viel wie möglich über sie in Erfahrung gebracht, um verstehen zu können, wie sie dachte und fühlte und wie andere sie sahen. Interessanterweise waren die Berichte über Charlotte so unterschiedlich und widersprüchlich gewesen, dass Nick sich fragen musste, ob ihre Freundinnen und Familienangehörigen von ein und demselben Mädchen sprachen.
Ihren Eltern gegenüber war Charlotte eine gehorsame Tochter gewesen, immer darauf bedacht, zu gefallen und ja keinen Widerwillen zu erregen. So war ihr plötzliches
Verschwinden für die Eltern unfassbar gewesen, da sie davon ausgegangen waren, das Mädchen habe sich damit abgefunden, Lord Radnors Braut zu werden. Charlotte hatte von Kindesbeinen an gewusst, dass das Wohlergehen ihrer Familie davon abhing. Die Howards waren einen Pakt mit dem Teufel eingegangen und hatten die Zukunft ihrer Tochter gegen die finanzielle Unterstützung eingetauscht, die Lord Radnor ihnen angedeihen lassen konnte. Über zehn Jahre lang hatten sie seine Gönnerschaft genossen, doch just zu dem Zeitpunkt, als der Teufel seinen Anteil verlangte, war Charlotte geflohen. Die Howards hatten Nick gegenüber klargestellt, dass Charlotte umgehend gefunden und an Lord Radnor übergeben werden musste. Sie verstanden nicht, weshalb ihre Tochter weggelaufen war, und waren überzeugt davon, dass es ihr zu ihrem Vorteil gereichen würde, fortan als Lady Radnor durchs Leben zu schreiten.
Anscheinend hatte Charlotte die Meinung ihrer Eltern nicht geteilt. Sie hatte Maidstone, ein vornehmes Internat besucht, und ihre Freundinnen von dort, die mittlerweile größtenteils verheiratet waren, hatten zögernd ein Mädchen beschrieben, das immer stärker dagegen aufbegehrte, wie Radnor jeden Aspekt ihres Lebens überwachte. Die Lehrerschaft hatte sich aufgrund der großzügigen Spenden Radnors mehr als willig gezeigt, ihm jeglichen Wunsch zu erfüllen. Charlottes Stundenplan war von dem der übrigen Mädchen abgewichen; Radnor hatte die Fächer ausgesucht, in denen sie unterrichtet werden sollte. Außerdem hatte er bestimmt, dass sie eine Stunde früher als die anderen Mädchen zu Bett zu gehen hatte. Er hatte sogar festgelegt, wie viel sie zu essen bekommen sollte, nachdem er bei einem ihrer Besuche festgestellt hatte, dass sie etwas zugenommen hatte.
Obwohl Nick Verständnis für Charlottes Aufbegehren hatte, empfand er keinerlei Mitleid. Er hatte für niemanden Mitleid. Vor langer Zeit hatte er gelernt, die Ungerechtigkeiten des Lebens und die grausamen Wendungen des Schicksals zu akzeptieren, denen kein Mensch für immer entgehen konnte. Im Vergleich zu den hässlichen Dingen, die er erlebt hatte, waren die Drangsale eines Schulmädchens nichts. Er hegte keinerlei Bedenken, Charlotte Radnor zurückzubringen, sein Honorar einzukassieren und die Braut wider Willen ein für alle Mal zu vergessen.
Sein Blick machte ruhelos die Runde, doch bisher gab es keine Spur von Charlotte. Das große Anwesen beherbergte zurzeit mindestens drei Dutzend Familien, die an den Feierlichkeiten teilnahmen, die Lord Westcliff jedes Jahr veranstaltete und die gewöhnlich einen Monat dauerten. Tagsüber widmete man sich der Jagd, dem Schießen und anderen Aktivitäten im Freien. Abends gab es jeweils musikalische Darbietungen und Tanz.
Mit Hilfe seines Schwagers Sir Ross Cannon war es Nick gelungen, an eine der heiß begehrten Einladungen nach Stony Cross Park zu gelangen, was unter normalen Umständen schier unmöglich war. Nick hatte sich dazu entschieden, den gelangweilten Aristokraten zu spielen, der ein paar Wochen frische Landluft schnuppern wollte. Auf die Bitte von Sir Ross hatte der Graf von Westcliff Nick eingeladen, ohne zu ahnen, dass er ein Bow-Street-Runner war, der eine entlaufene Braut jagte.
Im Schein der unzähligen Lichter, die in den Ästen der Eichen hingen, schienen die Juwelen der Damen um die Wette zu funkeln. Ein ironisches Lächeln umspielte Nicks Mund, als er daran dachte, wie einfach es wäre, diese Hühner zu rupfen. Vor nicht allzu langer Zeit hätte er eben dies getan. Das Einzige, worin er besser war als darin, Verbrecher zu stellen, war, selbst Verbrechen zu begehen. Doch nun war er ein Runner, und man erwartete von ihm,
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