Im Zeichen der Angst Roman
lange mit einer Aufbesserung seiner Stundenpauschale, bis sie ihn entließ.
Über Lydia von Weiden und ihren Sohn Tassilo gab es die umfassendsten Aufzeichnungen. Je nachdem, von wem meine Mutter ihre Informationen erhalten hatte, war Lydia entweder eine eiskalte Schlange, die ihren Mann nur aus Berechnung geheiratet und in den nächsten Jahren systematisch in einen allzu frühen Herzinfarkt getrieben hatte und die ihren Sohn seither ebenso schonungslos benutzte und manipulierte wie früher ihren Gatten.
Oder aber sie war eine desillusionierte Frau, die für einen Langweiler ihren Beruf als erfolgreiche Theaterschauspielerin geopfert und zwei Kinder bekommen hatte, um das eine dann durch einen tödlichen Unfall zu verlieren. Die Gerüchte, so schrieb meine Mutter, hielten sich bis heute, dass der damals achtjährige Tassilo von Weiden schuld am Ertrinken seiner erst zweijährigen Schwester gewesen war. Meine Mutter schrieb weiter, dass Lydia von Weiden niemals über den Tod ihrer Tochter sprach und jeden Versuch eines Gespräches darüber unterband.
Glaubte ich meiner Mutter, so war das Gut unter der Leitung des Sohnes seit Jahren hoch verschuldet. Von dem finanziellen Desaster, auf das sich das Gut zubewegte, soll Lydia von Weiden allerdings lange nichts gewusst haben, bis der Zwangsvollstrecker eines Tages in der Tür stand und sie dessen Anwesenheit wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf.
Es fiel mir schwer, an so viel Ahnungslosigkeit zu glauben, auch wenn meine Mutter weiter schrieb, dass Lydia sich nie um Geld kümmerte und es immer mit vollen Händen ausgab. Das tat sie auch dann noch, als sämtliche Häuser des Gutes verkauft
wurden und ihr und ihrem Sohn nichts anderes blieb als das Haupthaus und die Nebengebäude, die sie aus Erwerbsgründen dann an die Horststätter Feuerwehr vermieteten. Der Verkauf der über 20 Häuser deckte die Schulden und reichte wohl einige Zeit, doch es mussten im Verlauf der Jahre immer wieder Äcker und Weiden veräußert werden, um das Haupthaus mit seinen über 40 Zimmern und den aufwändigen Lebensstil der Mutter zu finanzieren. Die Landwirtschaft, die Tassilo von Weiden als Biobauer und Pferdezüchter betrieb, warf nicht genügend ab, und Lydia weigerte sich, das Gutshaus zu verkaufen und in ein kleineres Haus zu ziehen. Meine Mutter nannte das, was sich zwischen Lydia und Tassilo von Weiden abspielte, schlicht einen Machtkampf, der nur durch den Tod einer der Beteiligten beendet werden konnte.
Tassilo von Weiden kam in den Tratschereien der Dorfbewohner offenbar nicht besser weg als seine Mutter. Die einen bescheinigten ihm eine Gutsherrenmentalität, die selbstherrlich für sich beanspruchte, alles besser zu wissen und Ratschläge deshalb grob und anmaßend abzulehnen, und die sich ohnehin mehr auf Frauen fokussierte als auf seine Pferde, Rinder und Schweine. Die anderen hielten ihn für einen Spieler, der mit dem ererbten Vermögen nicht zu wuchern wusste, sondern jeden Cent sogleich in die Spielkasinos trug.
Alle jedoch bescheinigten ihm einen unvergleichlichen Charme Frauen gegenüber, und meiner Mutter zufolge hatte es in Horststätt keine Frau gegeben, die nicht zumindest kurzzeitig in ihn verliebt gewesen wäre. Bis heute hielten sich Gerüchte, dass Christine Metternich von Tassilo schwanger geworden war und abgetrieben hatte, was bei ihr einen psychotischen Schub auslöste, so dass sie vorübergehend in einer Klinik behandelt wurde. Es gab außerdem Gerüchte, dass auch Rebecca sein Kind war, dass Lydia von Weiden die treibende Kraft sowohl bei der Abtreibung als auch bei der Nichtanerkennung Rebeccas gewesen war und dass sie generell jede Frau an Tassilos
Seite vertrieb, als würde sie ihn ihr Leben lang für den Tod seiner Schwester bestrafen.
Als ich an diesem Mittag den Hügel zu dem Gutshaus hinaufging und mir das Dossier noch einmal vergegenwärtigte, erschien mir das Ganze bösartig und weit hergeholt. Klatsch eben, wie er aus Neid und Missgunst geboren wurde und besonders gern in entlegenen Dörfern jahrzehntelang am Leben erhalten wird. Doch als ich die Frau zwei Stunden später wieder verließ, konnte ich dem Urteil der Dorfbewohner nur beipflichten, und ich fragte mich, wie jemand darauf kommen konnte, dass Claire Silberstein mit dieser Frau befreundet war.
40
Es mag Zeiten gegeben haben, als beschürzte Dienstmädchen den Gast am großzügig überdachten Eingang des Gutshauses empfingen, sobald sie ihn die von Eichen gesäumte Auffahrt
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