Im Zeichen der Angst Roman
seinem Kollegen. Ich hörte sie auf dem Korridor leise reden, dann fiel die Tür hinter ihnen ins Schloss.
Ich saß noch eine ganze Weile an dem Tisch und starrte vor mich hin. Schließlich stand ich auf, sammelte die Becher ein und brachte sie zur Spülmaschine. Weiter kam ich nicht. Meine Hände zitterten unkontrolliert, als ich die Klappe öffnete, um die Tassen hineinzustellen. Ich wusste, was jetzt kam.
Überfallartig konnte ich nicht mehr atmen. Ich beugte mich
nach hinten, den Kopf weit in den Nacken gelegt und versuchte, nicht krampfhaft und hektisch nach Luft zu schnappen. Wenn ich hyperventilierte, würde es nur schlimmer werden. Ich suchte mit den Augen die Decke ab. Sie fanden keinen Halt. Ich begann Primzahlen rückwärts zu zählen und dachte an Madeleine.
Schließlich legte sich die Panikattacke. Mein Unterhemd klebte schweißnass an meinem Körper, von meiner Stirn perlten Schweißtropfen.
39
Wie viele Dörfer in der Nähe von Großstädten hatte sich auch Horststätt in den letzten zwei Jahrzehnten verändert und war in seinen Außenbereichen gewachsen. Durch den rasanten Zuzug von Städtern waren die Grundstückspreise in die Höhe geklettert, und die Einheimischen verkauften sie zu hervorragenden Preisen. Die Kommunen erschlossen das Land und setzten ganze Neubaugebiete auf einstige Weideflächen und Äcker.
Im nördlichen Randgebiet des Dorfes war so eine jener eng bebauten Siedlungen aus modernen Einfamilienhäusern entstanden, die von Pendlern oder Pensionären bewohnt wurde. Die einen liebten die Ruhe und die Nähe zu Hamburg, die anderen waren hierhergezogen, weil die Hügellandschaft so bezaubernd war und man nur eine knappe halbe Stunde bis an die weißen Strände der Ostsee fuhr.
Die großzügigen Grundstücke des ursprünglichen Dorfkerns jedoch scharten sich entlang der holprigen Straße den Hügel zum Gutshaus hinauf lose aneinander. Es war ein Glück für das Dorf, dass das Land Schleswig-Holstein die gesamte Gutsanlage bereits Mitte der achtziger Jahre unter Denkmalschutz gestellt und so verhindert hatte, dass die Grundstücke geteilt und der Flecken durch gesichtslose Einfamilienhäuser verschandelt wurde.
Als ich an meinem zweiten Tag endlich die Freundin meiner Mutter, Lydia von Weiden, kennen lernen sollte, ging ich mittags unter alten Eichen und Kastanien hindurch, deren knorrige Astkronen sich weit und mächtig über die Häuser aus rotem Backstein erhoben und sich immer mal wieder in Nebelschwaden verloren, die vom Gutsteich her aufstiegen. Ich atmete die kalte, feuchte Luft ein und schaute auf das rutschige Kopfsteinpflaster des schmalen Gehwegs. Sah ich doch einmal hoch, leuchteten mir hinter den roten, kniehohen Mauern der Vorgärten grüne Flügelfenster und Eingangstüren selbst an diesem nebligen Novembertag munter entgegen, und wäre meine Stimmung nicht noch nebelverhangener gewesen als der Himmel, hätte ich mich daran sehr viel mehr freuen können.
Ich hatte die halbe Nacht schlaflos im Bett meiner Mutter verbracht, war lange nach Mitternacht noch einmal aufgestanden, hatte mich in das blaue Arbeitszimmer im ersten Stock gesetzt und mir ihren Laptop vorgenommen. David hatte mir wichtige Dokumente ausgedruckt, doch an jenem Morgen, an dem er ihn sich angesehen hatte, hatte ihn die Zeit gedrängt, so dass er nicht jeden Ordner geöffnet hatte. Da ich jedoch wusste, dass meine Mutter penibel und systematisch vorging und dass sie den Mörder von Jörn Bruchsahl gesucht hatte, war ich mir sicher, dass es weit mehr Dokumente geben musste, als David während seiner ersten, flüchtigen Durchsicht gefunden hatte.
Als ich in dieser Nacht nun systematisch einen Ordner nach dem anderen auf ihrer Festplatte öffnete, fand ich ein Dossier über jeden Einwohner des Dorfes, der im Zusammenhang mit Johannas Entführung von der Polizei 1996 vernommen worden war. Nur eine Person fehlte: meine Halbschwester.
Mir blieb unklar, wie sie an die Informationen gekommen war, denn wie sich später herausstellte, hatte auch meine Mutter sehr zurückgezogen gelebt und außer Madeleine niemanden in ihr Haus gelassen. Nicht einmal Christine Metternich, bei der sie sechs Monate gewohnt hatte. Auch nicht ihren Gärtner
Lenny, der das als persönliche Beleidigung aufgefasst und nur so lange für sie gearbeitet hatte, wie er auf das Geld angewiesen war. Als er in der neuen Siedlung die Pflege mehrerer Grundstücke übernahm, nutzte er die erstbeste Gelegenheit und provozierte meine Mutter so
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